162 - Das Grauen aus der Baring Road
Pfeil auch nur um einen Zentimeter gesenkt worden wäre, schob sich ein hageres Gesicht in die Türöffnung. Madigan hatte sich in den vergangenen Jahren stark verändert; Dorian mußte zugeben, daß er ihn auf der Straße kaum erkannt hätte. Vor allem der schüttere Haarkranz an seinen Schläfen stand in krassem Gegensatz zu seiner früher vollen Mähne. Allerdings schien es Madigan mit ihm ähnlich zu gehen; seine Miene drückte deutlich sein Mißtrauen aus. „Hunter…", murmelte er nachdenklich. „Sie sollten keine faulen Tricks versuchen."
„Es ist schon etliche Jahre her", sagte Dorian. „Aber wer hat denn damals den Artikel über deine Sammlung geschrieben?"
Madigans nachdenkliches Stirnrunzeln verschwand. „Dorian Hunter", murmelte er. „Natürlich, jetzt erkenne ich dich." Er ließ die Waffe ein klein wenig sinken, behielt den Pfeil aber auf der Sehne. „Wie geht es deiner Frau? Wenn ich mich recht entsinne, war sie damals doch zutiefst entsetzt über meine Sammlung."
„Lilian ist tot."
„Das tut mir leid. Aber zu etwas anderem: Warum schleichst du dich wie ein Dieb bei mir ein?" „Erstens habe ich geklingelt, und zweitens brauche ich deine Hilfe. Ich weiß nicht, wieviel Zeit mir noch bleibt."
„Wirst du verfolgt? Von der Polizei?" Das klang lauernd.
„Quatsch." Dorian winkte heftig ab. „Sehe ich aus wie jemand, der mit dem Gesetz in Konflikt steht?"
„Na ja", meinte Madigan. „Immerhin bist du bei mir eingestiegen. Wäre ich nicht von einem Nachbarn aus zufällig Zeuge geworden, hätte ich meine Wohnung völlig ahnungslos betreten. Also: Wer ist hinter dir her?"
„Ein Dämon, wenn du es unbedingt wissen willst."
Ronald Madigan stutzte, dann begann er gekünstelt zu lachen. „Ich entsinne mich", stieß er hervor. „Du glaubst also nach wie vor diesen Unsinn von Vampiren, Werwölfen und all den Kram?"
Dorian vollführte eine umfassende Bewegung. „Und das, was du zusammengetragen hast? Hat nicht das meiste davon irgendwie mit Geisterbeschwörungen und Dämonen zu tun?"
„Schon." Madigan nickte. „Aber die Indianer waren Naturkinder, die es nicht besser wußten. Wir hingegen leben in einer aufgeklärten Welt, in der für solchen Humbug kein Platz mehr ist. Schamanen und Medizinmänner wurden längst durch Computer ersetzt."
„Ich brauche Daten", drängte Dorian. „Später können wir uns über alles unterhalten - falls wir nicht das Pech haben, vorher in die Ewigen Jagdgründe einzugehen. Du solltest wissen, daß ich nicht spaße. Sagt dir der Name Palawaikö etwas - die Große Schlange Palawaikö?"
Madigan zuckte mit den Schultern. Dorian Hunter machte auf ihn einen gehetzten Eindruck. Trotzdem wußte er nicht recht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Dorian arbeitete offenbar nicht mehr als Reporter. Madigan entsann sich, vor einiger Zeit einen reißerischen Artikel über das Verschwinden von Kindern gelesen zu haben. Dorian Hunter sollte 13 Jungen und Mädchen gerettet haben - eine Tat, von der vorübergehend ganz England sprach. Aber das machte für ihn alles eher noch verzwickter.
Während er noch überlegte, löste Hunter eine Kette von seinem Hals und ließ den daran befestigten geschliffenen Gegenstand pendeln. Madigan spürte, wie etwas Fremdes von seinen Gedanken Besitz ergriff, aber er war zu schwach und zu überrascht, um sich wirksam dagegen zu wehren. „Weißt du, welcher Stamm?" hörte er sich fragen, ohne es eigentlich zu wollen.
„Pima-Indianer. Heutiges Arizona."
„Palawaikö", murmelte Madigan und zog einen Ordner aus irgendeinem Regal. Ein Register erleichterte ihm die Suche. „Nein", stellte er dann kopfschüttelnd fest. „Aber viele Stämme hatten die unterschiedlichsten Bezeichnungen für Götter und Dämonen." Ohne daß Dorian ihn dazu auffordern mußte, begann er in anderen Unterlagen zu blättern. Ein Blick auf seine Armbanduhr überzeugte den Dämonenkiller davon, daß inzwischen gut eine viertel Stunde vergangen war. Er ahnte, daß Palawaikö ihn finden würde.
„Hier." Madigan hatte ein Buch aufgeschlagen und deutete auf eine eng bedruckte Seite. „Palawaikö war bei den Maidu bekannt."
„Lies vor!" verlangte Dorian.
An jenem Ort, der heute die Große Quelle genannt wird, lag vor vielen Menschenaltern ein ausgedehnter See, von dem nur noch tiefe Kolke und eben die Quelle zeugen. Unweit dem Ufer, zwischen Bäumen verborgen, stand die Hütte eines alten Paares und seiner ansehnlichen Tochter. Das Mädchen war es gewohnt,
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