1661
Fangzähne hatten auf seinen Borsten breite, rote Spuren hinterlassen.
Der König blieb stehen und atmete tief ein. Durch die Kälte roch die Luft noch intensiver nach feuchtem Laub und Blut als sonst. Wie er so dastand – bis zur Taille mit Schlamm bespritzt, die Kleider, Stiefel und Handschuhe ganz aus Leder, der Kopf unbedeckt und die Haare im Nacken durch ein breites Samtband gehalten, das schwitzende Gesicht verdreckt –, strahlte der König von Frankreich eine Mischung aus Leidenschaft und Arroganz aus. Das Bild einer anderen Jagd kam Ludwig XIV. jetzt in den Sinn. Einer Jagd, bei der sich ein vierjähriger Junge von der Hand des ihn bewachenden Musketiers losriss und mit strahlendem Lächeln zu seinem Vater lief. Seine blonden Locken wehten in der kühlen Morgenluft,und seine Augen waren vom Schlaf noch ganz verquollen, doch der kleine Junge verspürte in seinem Herzen nur eine Mischung aus Furcht und Freude, als er sah, wie sein Vater an der Brust des erlegten Hirsches sein Messer abwischte, von dem dickes, fast schwarzes Blut triefte. Die Lichtung glich jener, über die die Jagdgesellschaft gerade gekommen war. Es waren dieselben Bäume, nur inzwischen mehr als fünfzehn Jahre älter. Im Trab waren sie damals heimgekehrt, er saß vor seinem Vater gegen den Sattelknauf gedrückt, das Gesicht an den väterlichen Handschuh geschmiegt, dem der scharfe Geruch des Tieres, der Geruch von Schweiß und Blut anhaftete. Er war eingeschlafen und erst auf einer Bank des Jagdpavillons von lauten Stimmen und Lachen wieder erwacht, darunter dem dröhnenden Gelächter des Herzogs von Épernon. Kaum waren sie zu Hause, hatte ihn seine Gouvernante in den großen Badezuber gesteckt und spitze Schreie ausgestoßen, als sie die roten Flecken auf seinem Wams, seiner Schärpe und in seinen Haaren entdeckte. Und er hatte laut gelacht, als er sah, wie das rotgefärbte Wasser aus der reinweißen Porzellanwanne lief.
Versailles war stets gegenwärtig, seine Wälder, seine Gerüche, der Palast, in dem der Geist seines Vaters noch zu spüren war, weit weg von der Stadt, wo ihm der kalte Hass des Pariser Pöbels entgegenschlug, Versailles war stets gegenwärtig, wie das Versprechen, das eingelöst werden wollte …
»Sire, eine Nachricht aus dem Louvre.«
Aus seinen Träumereien gerissen, musterte der König den Mann in der blauen Uniform der Musketiere verächtlich, der plötzlich vor ihm stand. Dann blickte er auf das Schreiben, das ihm der Mann, ein Knie auf dem Boden, hinhielt. Ohne ein Wort, die Lippen vor Wut zusammengepresst, bedeutete er dem Jagdgefährten an seiner Seite, den Brief entgegenzunehmen.
D’Artagnan verabschiedete den Boten mit einem vernichtenden Blick, worauf dieser sich so schnell entfernte, wie er gekommen war.
»Der Befehl kommt aus dem Palast des Kardinals, Sire, und der Bote war im Besitz des Passworts, das ihm sofortiges und freies Geleit zu Eurer Majestät gibt«, rechtfertigte sich der alte Jagdmeister, der die Jagd organisiert hatte und dem der Musketier sein Anliegen zunächst vorgebracht hatte.
»Das nehme ich doch an«, antwortete der König kalt, »ich kann dem Absender nur wünschen, dass er dieses Privileg nicht missbraucht hat.«
Der König blickte noch einmal auf den sterbenden Keiler, dann drehte er sich wieder zum Hauptmann seiner Garde.
»Nun, Monsieur d’Artagnan, was gibt es so Wichtiges, dass mich sogar hier meine Pflichten einholen?«
Als er d’Artagnans ernste Miene sah, erstarb die Ironie jedoch auf seinen Lippen.
»Sire«, antwortete dieser, während er seinen Hirschfänger zurück in die an der Hüfte befestigte Scheide steckte, »ich fürchte …«
»Sie sollen nicht fürchten, d’Artagnan, sondern endlich sprechen.«
»Es hat ein Feuer gegeben, Sire, welches das Palais Mazarin vollkommen verwüstet hat. Alles ist schwarz von Ruß, bis hin zu den Fenstern des Louvre. Es gibt einige Verwundete, vielleicht auch Tote …«
Der König erbleichte.
»Der Kardinal …«
»… ist bei guter Gesundheit, soweit die Erschöpfung der vergangenen Tage dies erlaubt. Seine Eminenz war nicht am Ort des Geschehens …«
Der König unterbrach ihn mit einer Handbewegung und rief den Diener, der seinen Umhang trug. Unter dem enttäuschtenBlick des Jagdmeisters, der seinen Ruhm dahinschwinden sah, warf er den Hirschfänger zu Boden. »Wir brechen auf, meine Herren. Man spanne sofort die Pferde an.«
Der König und sein Gefolge schwangen sich in den Sattel und
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