1689 - Engel der Ruinen
verfolgte, und das beruhigte ihn ein wenig.
In der kühlen Halle fühlte er sich wohler. Er sah die breite Marmortreppe vor sich, aber auch den Lift, der ihn in die zweite Etage hätte bringen können.
Miller war zu geschafft, um die Stufen zu gehen. Er entschied sich für den Lift, dessen Tür sich hinter ihm schloss. Der Anwalt lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand und ließ den Mund beim Atmen offen. Der Lift ruckte leicht, dann fuhr er nach oben, und Miller hatte plötzlich das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben. Er hätte doch die Treppe nehmen sollen. Hier in der Kabine fühlte er sich eingeengt.
Nun ja, die kurze Zeit würde auch verstreichen. Dann würde er sein Büro betreten und damit die ihm so vertraute Umgebung, in der er sich sicher fühlte.
Warum hielt der Lift nicht? Er hätte schon längst sein Ziel erreichen müssen.
Erst jetzt beschäftigte sich Miller mit dieser Tatsache. Er schaute auf die digitale Anzeige und sah dort die Zahl zwei. Also war er bereits in der richtigen Etage.
Nur die Tür öffnete sich nicht.
Sie lag ihm gegenüber. Er starrte sie an, und seine Augen hatten sich dabei vergrößert. Miller erlebte einen erneuten Schweißausbruch. Seine Lippen zitterten, und welche Gedanken durch seinen Kopf rasten, wusste er selbst nicht.
Warum öffnete sich die Tür nicht?
Weil ich ein Gefangener bin!, schoss es ihm durch den Kopf. Ja, verdammt, ich bin hier gefangen!
Mit den bloßen Händen würde er die beiden Türhälften nicht zur Seite schieben können. Werkzeug trug er nicht bei sich. Seine Knie waren plötzlich weich. Hätte er nicht die Stütze im Rücken gehabt, er wäre längst gefallen.
Hier komme ich nicht mehr raus. Nicht ohne fremde Hilfe. Seine Gedanken wirbelten. Die Panik war da, und Miller kam nicht mal auf den Gedanken, den Notrufknopf zu drücken.
Was tun?
Schreien? Möglich. Vielleicht hörte ihn jemand. Die Mauern in diesem Haus allerdings waren dick. Sie ließen nichts durch, als wären sie für die Ewigkeit errichtet worden.
Und dann passierte doch etwas. Miller wusste nur nicht, ob ihm das gefallen konnte. In der Tür bewegte sich etwas. Im Metall zeichnete sich ein dunkler Schatten ab, der dort nicht blieb, sondern sich weiter vordrängte.
Lautlos glitt er in die Kabine hinein.
Jason Miller riss die Augen noch weiter auf. Aus seinem Mund drangen Laute, wie sie nur die Angst produzieren konnte. Er hatte gedacht, das letzte Erlebnis wäre einmalig gewesen. Da irrte er sich, denn sein Besucher war kein Geringerer als die Gestalt aus dem Gerichtssaal …
***
Jason Miller hielt den Atem an. Jetzt ist alles aus!, schoss es durch seinen Kopf. Das überstehe ich nicht. Der ist erschienen, um mich zu holen. Das ist der nackte Wahnsinn, das kann ich nicht überstehen. Ich werde …
Seine Gedanken brachen ab, denn ihn traf ein Schwall eiskalter Luft, als wollte diese ihn einfrieren. Es lag daran, dass sich die Erscheinung ihm noch mehr genähert hatte, und er glaubte daran, dass aus dem feinstofflichen Körper ein fester wurde, den jeder anfassen konnte, auch er.
Aber der Anwalt traute sich nicht, die Hand nach dem Besucher auszustrecken, der zwar wie ein Mensch aussah, aber keiner war, denn über beide Schultern ragten zwei abgerundete Enden von dem, was sich auf dem Rücken befand.
Die Gestalt sah bläulich aus. Aber auch irgendwie hell. Um die Füße herum hatte sich ein feiner Nebel gebildet. Die Gestalt trug so etwas wie ein Kleid oder einen Umhang, der dicht am Körper lag. So genau war dies nicht zu erkennen, und trotzdem hatte sie etwas Engelhaftes an sich, und es traf den Anwalt wie ein Blitzschlag.
Ja, vor ihm stand ein Engel!
»O Gott«, flüsterte er und presste seine Hand gegen die Lippen, bevor er fragte: »Wer bist du?«
Mit einer normalen Antwort hatte Miller nicht gerechnet und war überrascht, dass er sie trotzdem erhielt.
»Manche nennen mich den Todesengel!«
Jason Miller hatte die leise Antwort gehört. Er nickte, obwohl er es nicht wollte. Was hier geschah, das passte nicht in sein Weltbild, und den Begriff Todesengel verband er mit seinem Ende. Das Wesen war gekommen, um ihn zu holen.
»Ich habe dir nichts getan. Bitte – ich weiß nicht …«
Die Stimme unterbrach ihn. »Manche nennen mich auch den Engel der Ruinen, weil ich immer dort erscheine, wo großes Leid verbreitet ist. Ich habe das Grauen gesehen, das die Menschen in diese Welt gebracht haben. Egal, in welchen Ländern. Überall treffe ich auf den Tod,
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