1689 - Engel der Ruinen
wohl nicht. Und ich habe auch keinen zweiten weißen Wolf gesehen, der eine Kreatur der Finsternis ist.«
Damit hatte sie auf einen Fall angespielt, den wir gemeinsam vor einiger Zeit erlebt haben.
»Das hat mir auch gereicht.«
»Und worum geht es heute?«
»Wenn du Zeit hast, könntest du mich mal besuchen.«
»Im Gericht?«
»Ja, ich bin im Dienst.«
»Und worum geht es?«
»Um einen Mann, den ich dir gern vorstellen möchte.«
»Was ist er denn?«
»Ein Angeklagter, der heute Nachmittag vor Gericht stehen wird.«
»Hört sich nach Routine an.«
»Ja, könnte sein.«
»Und was soll ich dabei?«
»Das ist ganz einfach. Du könntest dir anhören, was er auch mir gesagt hat. Ich will nicht eben sagen, dass es direkte Drohungen waren, aber seltsam waren seine Worte schon.«
»Wie lauteten sie denn?«
»Ich sage nichts. Du musst selbst hören, was der Mann zu sagen hat. Er heißt Josip Milic.«
Ich musste nicht lange nachdenken, um meine Antwort zu geben. »Tut mir leid, aber den Namen habe ich noch nie gehört. Warum steht er denn vor Gericht?«
»Das werde ich dir erklären, wenn wir uns sehen. Hast du denn überhaupt Zeit?«
»Für dich doch immer.«
»Oh – soll ich mich jetzt gebauchpinselt fühlen?«
»Das überlasse ich dir.«
»Wann kommst du?«
»Ich mache mich gleich auf den Weg.«
»Du weißt ja, wie du zu meinem Büro kommst.«
»Das habe ich nicht vergessen.«
Unser Gespräch war beendet. Dafür blickte ich zu Suko hinüber, der mich fragend anschaute.
»Was wollte sie denn?«
Ich hob die Schultern. »Kann ich dir auch nicht sagen. Es geht da um einen Mann, der vor Gericht steht. Die Verhandlung soll heute Nachmittag sein, und Purdy möchte, dass ich mir anhöre, was er zu sagen hat. Allerdings vor der Verhandlung.«
»Und du bist jetzt praktisch weg.«
»So ist es.«
Suko nickte mir über den Schreibtisch hinweg zu. »Dann halte ich mal hier die Stellung.«
»Tu das.«
Ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte, das Büro zu verlassen. Eigentlich hatte ich es ja ruhig angehen lassen wollen, doch dieser Anruf hatte mein Vorhaben über den Haufen geworfen. Und wenn die Staatsanwältin mit mir telefonierte, dann tat sie das nicht ohne Grund und ging sicherlich einem Verdacht nach, bei dessen Aufklärung sie sich durch mich Hilfe erhoffte …
***
Ich kannte mich dort aus, wo Purdy Prentiss arbeitete. Dank meines Ausweises durfte ich die Beretta mit in das Gerichtsgebäude nehmen, ansonsten hätte ich die Waffe abgeben müssen.
Den Weg zum Büro der Staatsanwältin kannte ich. Es lag an einem der breiten Flure, von denen es im Bau nicht wenige gab. Dicke Mauern, ein blanker Boden, auf dem sich das Licht der an der hohen Decke hängenden Lampen widerspiegelte.
Ich war nicht der Einzige, der sich auf dem Flur aufhielt. Mir kam ein Gerichtsdiener entgegen. Er schob einen mit Akten beladenen Wagen vor sich her, und seine Gesichtsfarbe sah so grau aus wie die Deckel der Akten. Er warf mir einen kurzen Blick zu und passierte mich ohne ein Wort des Grußes. Bei dem Job wäre ich auch frustriert. Wenig später klopfte ich an Purdys Bürotür.
Eine Antwort wartete ich nicht ab und trat gleich ein. Purdy saß hinter dem Schreibtisch und klatschte in beide Hände. »He, bist du geflogen?«
»Klar, das mache ich doch immer, wenn du mich rufst.« Ich ging zu ihrem Platz und küsste sie auf beide Wangen.
Vor dem Schreibtisch stand ein Stuhl, der mich zum Sitzen einlud. Ich ließ meinen Blick über den Schreibtisch gleiten, der zu einem Drittel mit Akten beladen war. Sie ließen soeben Platz für einen Laptop, der allerdings zusammengeklappt war.
»Tja«, sagte ich, »da bin ich mal gespannt, womit du mir den Morgen versüßen willst.«
Purdy wiegte den Kopf. »Versüßen ist wohl nicht der richtige Begriff. Ich würde eher von süßsauer sprechen.«
»Das hört sich schon weniger gut an.«
»Mal schauen.«
Ich schwang ein Bein über das andere und sagte: »Ich habe da einen Namen gehört.«
»Richtig. Josip Milic.«
»Und was ist mit ihm?«
»Er wird heute angeklagt. Der Prozess beginnt am Nachmittag, und ich denke, dass er noch länger dauern wird. Aber das nur nebenbei.«
»Genau. Kommen wir darauf zu sprechen, was ich damit zu tun haben soll.«
»Das muss sich noch herausstellen.«
Ich warf ihr einen so schrägen Blick zu, dass sie einfach lachen musste.
»Ja, so ist das. Ich habe dich nicht angelogen. Ich will, dass du dir anhörst, was er zu sagen hat. Dann
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