Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
170 - Die Scharen der Nacht

170 - Die Scharen der Nacht

Titel: 170 - Die Scharen der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
Vom Netzwerk:
Schiffsbesatzung und vierzig Gardisten.
    Als unser Schiff sich in den Wind drehte und die Segel sich blähten, schauten wir auf zahllose Leichen und die animalische Horde zurück, die heulend um unsere brennende Festung tanzte. Wir verfluchten die Bestien, doch irgendwann verschwanden sie hinter dem Horizont, und wir wandten uns der Aufgabe zu, die mit dem Ende der Überfahrt erst beginnen würde – der Planung unserer Reise über einen von endlosen Dschungeln bedeckten Kontinent.
    Während wir über das stahlblaue Meer fuhren, erfuhr ich, was wir über diese Welt wussten. Ich erfuhr von den Katastrophen, die Kristofluu verursacht hatte; von den Erdverschiebungen, Dammbrüchen, Überschwemmungen und Explosionen. Ich hörte von der Ära der Finsternis, der Kälte und dem Tod vieler Jackos und Anangu durch die Scharlachpest. Ich hörte von grausamen Monarchen, absonderlichen Gottheiten und Ungeheuern, die unter der Erde hausten und durch die Lüfte segelten.
    Unser Ziel war die Hafenstadt Yangonn, die, wie der Rest des Kontinents, endlos grün auf mich wirkte. Das Klima war angenehm, die Menschen gebräunt, freundlich und oft zahnlos.
    Ich vergaß die Schreckensbilder: Endlich hatte ich das Gefühl, wieder frei atmen zu können. Niemand machte uns Schwierigkeiten, als unser Schiff anlegte und wir den Hafen der neuen Welt in Augenschein nahmen. Die Menschen luden uns zu einer Tasse Thi ein und zeigten uns einen prächtigen Tempel, in dem sie zu einer vierarmigen Göttin beteten.
    In den Straßen der Stadt saßen magere Männer mit weißen Turbanen und Lendenschurzen im Schneidersitz und spielten Flöte, während in Körben nistende Riesenschlangen sich wie in Trance vor ihnen im Tanz wiegten. Andere vollführten unbegreifliche Kunststücke: Da kletterte jemand an einem Tau in die Höhe, das nirgendwo befestigt war!
    Freundliche Kaufleute, die uns verstanden, tuschelten uns hinter vorgehaltener Hand zu, diese Männer seien Betrüger, und boten uns kurz darauf Fliegende Teppiche an.
    Für einen winzigen Teil unseres Ordensschatzes kaufte die Ehrwürdige Mutter Planwagen, Zugtiere, Proviant und Ausrüstung für eine Reise, die viele Monde dauern sollte.
    In der Nacht brachte eine Gruppe Tapferer Schwestern die verhüllte Göttin in einer mit rotem Samt ausgeschlagenen Sänfte an Land und verstaute sie in einem Planwagen.
    Dann brach unser Konvoi nach Norden auf. Yangonn lag gerade drei Tagesreisen hinter uns, als die Ehrwürdige, die im ersten Wagen fuhr, mich zu sich rufen ließ. Dies überraschte mich, denn ich war kaum mehr als ein Mädchen und gehörte nicht einmal zu den Unterführerinnen. Trotzdem ritt ich auf meinem schlappohrigen Vierbeiner zu ihr hin.
    Auf den Kutschbock saß die Tapfere Schwester Orlee. Sie war nicht weniger erstaunt als ich, bestätigte aber, dass die Ehrwürdige ausdrücklich nach mir verlangte.
    Ich schwang mich aus dem Sattel auf den Bock, und Orlee sagte: »Ich glaube, sie ist krank… Sie hat vermutlich Fieber.«
    Ich verschwand hinter die Plane. Die Ehrwürdige lag auf einem Strohlager und schaute zur Decke. Schweißtropfen bedeckten ihre Stirn. Ihr Blick war verschleiert, und sie musterte mich wie eine völlig Fremde. Ich kniete neben ihr nieder, nahm ihre Hand und rief Orlee zu, sie solle eine Heilerin holen lassen. Als ich mich über die Ehrwürdige beugte, sprach sie Worte in einer fremden Sprache.
    Ich redete beruhigend auf sie ein und wartete auf die Heilerin, die sich aber viel Zeit ließ. Ich bekam es mit der Angst zu tun, denn die Ehrwürdige fieberte immer stärker und gab nicht zu erkennen, dass sie mich kannte. Ein Wortschwall kam aus ihrem Mund, doch ich hörte nur einen Satzfetzen, den ich aber nicht verstand: »Wenn man zu oft… und zu lange … sie verschmelzen… du bist so gut wie tot …«
    Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihre Worte deuten sollte.
    Bei dem Wort »verschmelzen« dachte ich unweigerlich an flüssiges Metall, und wer ihrer Meinung nach so gut wie tot war, konnte ich mir nicht erklären. Ich hoffte nur, dass ich es nicht war.
    Ich fragte die Ehrwürdige, warum sie mich hatte rufen lassen, doch sie krallte sich nur an meine Hand, stierte zur Decke hinauf, murmelte unverständliche Worte und sagte dann den einzigen klaren Satz: »Die Tapfere Schwester Yoalee soll uns bis zum nächsten Nachtlager führen.«
    Dann schob jemand die Plane beiseite. Die Heilerin schwang sich, einen Tornister auf dem Rücken, in den Wagen hinein. Als sie das bleiche Antlitz der

Weitere Kostenlose Bücher