172,3 (German Edition)
Konnte der Homunculus seine – Viktors – Gefühle steuern? War er deshalb häufig so aufbrausend oder so … erregt … wie gestern? Wollte es, dass er sich mit Larissa zerstritt? Nachdenklich setzte sich Viktor in den Wagen und fuhr zur Schule. Er würde in Zukunft darauf achten. Und er würde die synkretistische Geistheilerin aufsuchen und sie um Rat fragen.
*
Zwei Streifenwagen kündeten von folgenschweren, nächtlichen Ereignissen. Viktor wurde unbehaglich. Er hoffte sehr, dass sich dieses Vorkommnis nicht wie ein weiteres Mosaiksteinchen in das Bild seiner persönlichen Hölle einfügte, sondern dass es sich um die üblichen Vergehen handelte. Eine Schlägerei zwischen den Glasern und den Bäckern im Zusammenhang mit unkontrolliertem Alkoholkonsum, Drogenmissbrauch oder die Verfolgung einer Spur der Verwüstung von Travemünde bis hierher. Aber er hatte eine Ahnung, dass es nicht so sein würde.
Angespannt stieg er aus seinem Wagen und ging zum Lehrerzimmer. Es war kälter geworden, der Sturm letzte Nacht hatte Schnee mitgebracht, den Viktor riechen konnte. Vor dem Internatsgebäude auf der anderen Seite des Parkplatzes standen viele Schüler dicht beieinander. Viktor erkannte etliche, die eigentlich nicht im Internat übernachteten und gewöhnlich erst zum Unterrichtsbeginn erschienen. Das Ereignis musste also von größerer Tragweite sein. Seine Problemschüler konnte er nicht in der großen Menschentraube erkennen. Das musste nichts heißen – aber es konnte. Fröstelnd öffnete er die Tür und bog in den Flur zum Lehrerzimmer ein.
»Viktor, endlich!«, begrüßte ihn Schulleiter Kirschstein, der ihm aus seinem Büro entgegen kam.
»Guten Morgen, Joachim«, erwiderte Viktor den Gruß mit fragendem Gesichtsausdruck und deutete mit dem Daumen hinter sich. Kirschstein nickte ernst.
»Ich muss eigentlich den Polizeibeamten helfen, aber komm erst mal mit in mein Büro.«
Viktor folgte ihm, Kirschstein schloss die Tür hinter sich.
»Hör zu, Viktor. Es hat einen Unfall gegeben.«
Innerlich atmete Viktor auf. Ein Unfall. Das hörte sich harmlos an. Er nickte.
»Wo?«, wollte er wissen.
Kirschstein schien sich zu sträuben, suchte nach Worten.
»Also, das ist alles nicht so einfach. Sascha Krüger ist in der Nacht verschieden. Er hat aus dem Cola-Automaten ein Getränk holen wollen und dabei hat er sich so unglücklich eingeklemmt und so energisch befreien wollen, dass er durch seine dabei entstandenen Verletzungen verblutet ist.«
Viktor sah Kirschstein perplex an. »Im Cola-Automat? Verblutet?«
Kirschstein nickte und Viktor witterte drohendes Unheil heranziehen.
»Ja, das ist alles sehr merkwürdig. Die Polizei sucht immer noch nach Hinweisen am Tatort. Ein Bestatter hat Herrn Krüger schon abgeholt.«
»Hast du ihnen die DVD gezeigt?«, fragte Viktor, um der Spur eines vermeintlichen Racheaktes der Klasse auf den Grund gehen zu können. Kirschstein betrachtete Viktor etwas zu lange.
»Welche DVD?«
Viktor wurde misstrauisch.
»Die, die dir Frau Gramer mitgegeben hat. Die, die du dir unbedingt ansehen solltest, um dann mit mir darüber zu reden«, antwortete er scharf.
»Ach ja, die. Ähm … nein, tut mir leid, Viktor. Bisher habe ich noch keine Zeit gefunden, um …«
»Dann gib sie der Polizei!«, forderte Viktor streng. Sämtlicher Respekt gegenüber seinem Vorgesetzten war auf einen Schlag abhanden gekommen. Nach einer detaillierten Antwort suchte er erst gar nicht.
»Ja, mach ich, Viktor. Ich suche sie und dann gebe ich sie den Beamten. Verlass dich darauf. Aber nun muss ich rüber und du musst erst mal in deine Klasse und sie auffangen. Der Unterricht fällt bis auf weiteres aus. Später werden die Beamten dich befragen wollen.«
Kirschstein legte eine bedeutungsschwangere Pause ein, die Viktor nicht deuten konnte. Waren die Verflechtungen zwischen der Autohauskette und Kirschstein so gewachsen, dass sein Vorgesetzter Konsequenzen fürchtete?
»Überlege dir deine Antworten gut«, forderte Kirschstein ihn auf.
Viktor nickte und ging zu seinem Klassenraum.
*
Seine Schüler waren schon im Klassenzimmer. Er hörte leise Unterhaltungen und als sie sein Kommen bemerkten, verstummten die Gespräche. Ernst und anteilnehmend sah er sie alle an, auch um die vorherrschende Stimmung einzufangen. Dennis und Alexander waren nicht anwesend. Die meisten sahen durch die Ereignisse mitgenommen aus, waren angespannt und übernächtigt, einige sogar entsetzt. Jedoch konnte Viktor keine Anzeichen von Trauer wahrnehmen.
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