18 Geisterstories
kommen die Arme her?« fragte ich, noch halb verstört.
»Ach, der Teufel hole die Arme!« rief Niels Daae; »sieh nur zu, daß du wieder auf die Beine kommst! Die Arme da? Das sind ja keine andern als die, welche ich selbst abgeschnitten habe. Es war ein ausgezeichnet schlauer Einfall. Du weißt ja, wie brummig Sölling wird, wenn er einmal eine Repetierstunde aussetzen soll. Nun hatte ich die Gänse zugeschickt erhalten und wollte euch gerne zu Lars Mathiesen mithaben. Ich wußte, ihr solltet die Osteologie der Arme vornehmen, deshalb ging ich zu Sölling, machte die Tür mit seinem eigenen Schlüssel auf und stahl die Arme von seinen Skeletten. Dasselbe tat ich hier auf der Regenz, und deinen mauste ich, während du unten im Lesezimmer warst. Bist du so genial gewesen, sie vom Gestell herabzureißen und die Etiketten abzunehmen? Ich hatte sie so schön mit Papierstreifen bezeichnet, damit jeder sein Eigentum wieder erhalten könne.«
Ohne ein Wort zu reden, kleidete ich mich an und ging bald mit Daae unter dem Arme in die frische, kühle Morgenluft hinaus.
In Krystalgaden trennten wir uns, und ich wanderte unverweilt nach dem Westerwalle, wo Sölling wohnte. Ohne der Einwendungen seiner alten Wirtin zu achten, ging ich in das Zimmer, wo Sölling den Schlaf der Gerechten schlief. Dort nahm ich den Arm, der noch, in Papier gewickelt, auf seinem Schreibtische lag, legte das Markstück an seine Stelle und eilte so rasch wie möglich auf den Kirchhof zurück.
Wie seltsam war alles verändert, als ich wieder dies Revier betrat! Der Morgennebel hatte sich gelichtet und hing wie glänzende Reifperlen in den Zweigen der Bäume, wo die Sperlinge zwitscherten. Keiner der Arbeiter war noch auf dem Kirchhofe. Ich schritt zu der großen Hänge-Eiche hinüber und stand wieder vor dem schweren Sarge von Eichenholz. Behutsam ließ ich den geraubten Arm in denselben hinabgleiten und klopfte mit sorglicher Hand die rostigen Nägel fest, gerade als die ersten Strahlen der blassen Novembersonne über den Kirchhof spielten.
Erst da ward es mir wieder leicht ums Herz.
Doktor Siemsen schwieg und schaute fragenden Blickes im Kreise umher. Draußen erklang das Schellengeläute des kleinen isabellfarbenen norwegischen Kleppers, der ungeduldig den Kopf schüttelte, und bald darauf saß der joviale Doktor wieder auf seinem hochlehnigen Sessel mit Fußsack und Kutschverdeck.
Aber im Pfarrhause schlief man nicht allzuviel in dieser Nacht, – selbst der Vetter Jakob war erschüttert.
Die Nacht von Pentonville von
Jean Ray
Der flämische Fantast Jean Ray (1887-1964) ist eine von Legenden umwobene Gestalt, die meist seine Leser erfanden und denen er nicht widersprach. Die wenigsten stimmten, und schon gar nicht jene, derzufolge Ray, der eigentlich Raymundus Johannes Maria de Kremer hieß, einen Großteil seines Lebens als Abenteurer, Schmuggler und Pirat verbracht hat. In Wirklichkeit fristete er sein Leben zunächst als Angestellter der Stadtverwaltung von Gent und arbeitete später als freier Journalist. Eine seiner ersten Gruselgeschichten erschien 1919 in der Film zeitschrift ›Cinemablad‹. Der erste Band mit fantastischen Erzählungen, ›Les contes du whisky‹, wurde 1925 publiziert. Danach erschienen Jahr für Jahr Erzählbände und Romane, die er in französischer Sprache schrieb. Jean Ray hat ein umfangreiches literarisches Oeuvre hinterlassen, von dem in Deutschland nur sehr wenig übersetzt vorliegt, obwohl seine Bücher äußerst erfolgreich waren und Meisterwerke der fantastischen Literatur sind.
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Die Behörden sorgten dafür, die geheimnisvollen Umstände, unter denen Richter
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