1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
geduldet hätte. Bei allem Schein jungfräulicher Schuldlosigkeit in Françoisens Benehmen und Wesen wollte es Bernhard aber doch bedünken, als könne dieser Schein täuschen. Zu häufig hatte er im Leben schon Gelegenheit gehabt, die Erfahrung zu machen, in welchem Grade die Frauen durch ihr äußeres Wesen ihr Inneres zu verhüllen wissen, und wie schwer es hält, zu unterscheiden, ob ein unschuldiger Blick aus einer unschuldigen Seele kommt. Er hatte wenig Grund zum Verdacht gegen Alisetten, und was er soeben bemerkte, konnte ebenso leicht Zufall als Absicht sein, da Jaromir ihr gerade gegenüberstand; indessen war es ihm, als rufe eine innere Stimme ihm zu: der blaue, klare Spiegel dieses Gewässers, welches Sonnenlicht und Himmel in so schöner Verklärung zurückwirft, bedeckt eine gefährliche Tiefe! Dagegen sprachen Lodoiskas edle, sanfte Züge unfehlbar das tiefste Innere ihrer Seele aus, und ohne durch den Reiz dieser Gestalt mehr als ganz allgemein angeregt zu werden, schien ihr Bild ihm doch unabweislich zuzurufen: dieser darfst du trauen; ihr Auge ist auch ihr Herz. Aber schien nicht ebendieses Auge, wie es sich so unruhig auf Jaromir heftete, zu sagen: Du trauter Jugendfreund, dich liebe ich aus tiefster treuester Brust! Muß ich sehen, daß diese lockende Stimme dich mit den silbernen Zauberfäden ihrer Töne umspinnt, um dich mir zu entführen?
Drittes Kapitel.
Der Gesang war zu Ende. Die Gräfin trat auf Alisetten, die unbefangen stehengeblieben war, zu, ergriff ihre Hand, streichelte ihr freundlich das Kinn und sprach: »Wie rührend, wie sanft bewegend; o, ich glaube, diese milden Töne müßten den heftigsten Sturm in der Brust zum Schweigen bringen. Sie sind das lindernde Öl, welches der Schiffer in die Brandung gießt, um das empörte Meer zu besänftigen. Welch ein Glück, wenn man einen solchen Trost des Himmels bei sich führt!« – »Ach,« antwortete Alisette mit einem leichten Seufzer, »wenn sie auch vielleicht eine fremde Wunde kühlen, den brennenden Schmerz der eigenen lindern sie nicht!«
»Wie?« sprach Ludwig, »sollte eine solche Göttergabe den umgekehrten Fluch der Kassandra mit sich führen?«
»Wieso?« fragte die Gräfin.
»Jene,« erwiderte Ludwig, »verkündete die Wahrheit und niemand glaubte ihr; dieser schönen Prophetin glauben alle; nur ihr selbst sollte die süße Wahrheit ewig unverstanden bleiben?« Alisette schien betroffen über Ludwigs Bemerkung; Bernhard, der sie gehört hatte, trat näher und fiel ein: »Unsere Kassandra hat recht. In vielen Fällen gleicht die Kunst der Sonne, die alles wärmt und belebt, aber selbst entweder ein kalter Körper ist, oder ein Feuerkoloß, der in sich zu Asche brennt. Das letztere ist häufiger. Die Welt nennt die Künstler glücklich, weil sie Glück verbreiten; wenige aber wissen, wie teuer oft das Kunstwerk von dem Künstler erkauft wird. Wenn ich sanfter vergleichen will, so möchte ich sagen, die Gaben der Kunst gleichen einer tauenden Wolke, welche, indem sie die Flur mit erquickenden Perlen überschüttet, sich selbst verzehrt und dahinschwindet.« – »O, das ist so wahr,« rief Alisette mit wehmütigem Blick; »wie oft war mir's, als solle ich an meinen Tönen sterben, und welch einen bittersüßen Tod!« – »Ich kann mir nicht denken,« entgegnete Ludwig, »daß die wahre Kunst nicht eine tröstende, erhebende Gefährtin durch das Leben sein sollte, deren Fittich uns trüge und kühlend bedeckte, wo der Pfad durch brennende Wüsten führt.«
»Das tut er freilich,« rief Bernhard, »wenn du dich erst in einer solchen Wüste befindest; dafür aber treibt dieser scheinbar so sanft leitende und tröstende Genius dich auch mit dämonischer Gewalt aus allen ebenen und betretenen Bahnen des Lebens heraus in die Wildnis hinein; er reißt dich an Abgründen dahin, stürmt dich jähe Felshöhen hinauf, schleudert dich in schäumende Wirbel eines empörten Ozeans, um dich von der kalten Woge an irgendein ödes Eiland werfen zu lassen.«
Ludwig schüttelte ernst das Haupt. »Einiges ist wahr von dem, was du sagst,« erwiderte er, »doch du schilderst nur die Hälfte, sprichst nur von den rauhen Nächten des künstlerischen Lebens, von den Ungewittern seines milden Frühlings, aber nicht von dem göttlichen Tag, den es euch leuchten, nicht von den tausend Blüten, die es auf euern Pfaden sprießen, nicht von dem sanften Mondglanz, den es in die dunkeln Tiefen einer trauernden Brust so tröstend hinabschimmern
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