Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
Vom Netzwerk:
Richtung ändert sich oft zu schnell, um mit geschlossenen Augen festen Fuß zu fassen. Aber heften Sie nur die Blicke gerade auf den Pfad vor sich, und gewinnen Sie es über sich, weder rechts noch links zu blicken, so werden Sie einen reichen Lohn für diese Enthaltsamkeit empfangen.«
    Lodoiska versprach es gutmütig und ließ sich nun ganz durch Benno, der sie bei der Hand ergriffen hatte, leiten. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft neckten sie mit ihrem Gehorsam, doch ließ sie sich nicht irre machen, sondern lächelte still vor sich hin und sprach: »Ich traue meinem Führer, denn er kennt diese Gebirge genau und weiß ihre Schönheiten zu empfinden.« Vergeblich suchten einige junge Leute mutwillig ihre Neugier rege zu machen, und rühmten bald diesen Blick in die Tiefe, bald jene Aussicht das Tal herunter; sie blieb standhaft. Nach kurzer Wanderung stand sie auf dem Gipfel, und Benno führte sie nun durch das Gemäuer hindurch in einen Eckturm, wo man einige halb verfallene Stufen hinanzusteigen hatte, sich aber alsdann in einem kleinen Raume mit weit ausgebrochenen Fensterhöhlen befand, der so auf der äußersten Grenze des Felsens liegt, daß man gar keinen Boden unter sich gewahr wird, sondern frei über dem Elbspiegel zu schweben scheint. Bevor sie hier eintrat, hatte Lodoiska das Auge auf Bennos Rat ganz geschlossen und ließ sich nun von diesem an das Hauptfenster stellen, von dem sie zugleich den schauerlichsten Blick in die Tiefe und den reizendsten in die Ferne, das Tal hinab, hatte. »Jetzt,« sprach Benno, »jetzt öffnen Sie die Augen! Nun ist es Zeit, sich umzuschauen.«
    »Heiliger Gott!« rief Lodoiska und trat erschreckend einen Schritt zurück, als sie in den schwindelnden Abgrund vor sich blickte. Doch einen Augenblick darauf hatte sie sich schnell gefaßt, und obwohl sie noch ein wenig zitterte, trat sie doch, aber ohne Bennos Hand loszulassen, wieder dicht an die niedrige Fensterbrüstung und beugte sich hinab. »Welch schauerliche Wonne!« sprach sie beklemmt. »Wie paaren sich hier Reiz und Schrecken so mächtig miteinander!« – »Nun,« fragte Benno, »ist der Fels hoch? Verdient er seinen Namen Schreckenstein?« – »Gewiß, gewiß! O es ist überaus herrlich hier!« rief Lodoiska, deren Bangen jetzt nach und nach in ein Staunen überging. »Wie klein unsere Gondeln dort in der Uferbucht erscheinen! Schon das Gärtchen des Türmers hier dicht unter uns liegt tief, und von dort senkt sich doch erst der Fels hinunter. Sehen Sie nur, wie die Schwalben fast so tief unter uns schweben als sonst über uns!« – »Die Raubvögel aber bleiben noch immer hoch über unserm Haupte«, bemerkte Benno, und deutete auf einen Habicht, der eben quer über das Tal hinschwebte und sich auf breiten Fittichen wiegte.
    Lodoiska hob das Auge aufwärts. Eben stand der Raubvogel fast unbeweglich und ließ sich nur von den breit ausgedehnten Schwingen tragen. Plötzlich schoß er pfeilgeschwind auf einen Flug Bergtauben herab, der tief unter ihm gesellig kreiste. Die verscheuchten Tiere flatterten hastig nach allen Seiten auseinander; eine jagte der Stößer vor sich her und verfolgte sie mit mächtig geschwungenen Fittichen. Sie nahm ihren Flug nach dem Turme zu, doch fast in dem Augenblick, wo sie die sichere Zuflucht erreichte, war auch der Feind ihr nachgekommen und packte das ängstlich flatternde Tierchen mit seinen grimmigen Fängen dicht vor Lodoiskas Augen. Sie sah einige durch den krallenden Griff ausgerupfte Federn fliegen und hörte das angstvolle Kreischen des Täubchens. Der Habicht strich im Schuß des Fluges so nahe an den Turm, daß er mit den breiten grauen Flügeln gegen das Gestein schlug, dann aber scheu vor den Menschen, jedoch ohne den Raub fahren zu lassen, sich wieder hoch in die Lüfte schwang.
    Die Frauen – denn auch Marie, die Gräfin und einige andere Damen der Gesellschaft waren nach und nach in den Turm getreten – hatten mit ängstlicher Teilnahme dem Schauspiel zugesehen. Das Mitleid mit dem gequälten Tierchen, dem niemand helfen konnte, und selbst der Schrecken vor dem wilden, heiser kreischenden Raubvogel, hatte alle mehr oder weniger ergriffen. Lodoiska aber sah bleich aus wie der Tod und zitterte heftig. Sie war noch zu aufgeregt von dem schauerlichen Gefühl, das der schwindelnd hohe Standpunkt, auf dem sie sich so plötzlich erblickt hatte, in ihr hervorbrachte, um nicht durch eine neue ähnliche Empfindung heftig erschüttert zu werden. Das Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher