1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Flammen, der sich brechend weit über die Wellen hinstreckte, veranlaßte ihn zu diesem Gleichnis. »Mindestens,« fuhr er fort, »ist es für uns der Rubikon, den wir passieren. Jacta est alea! Wir wissen kaum, ob wir hinüberkommen, geschweige, ob wir diesen Weg zurückreiten werden. Ich mache hiermit jedenfalls mein Testament, Bruder, hörst du? Sollten mich die Fische im Dnjepr, oder die Raben von Altrußland fressen, du bist mein Universalerbe. Aber mein Herz – ich verlange nicht, daß du mir den fühllosen Fleischklumpen aus der Brust schneidest – bringe deiner Schwester Marie mit zurück und teilt euch darein.«
»Wie kommst du jetzt auf die Schwester?« fragte Ludwig bewegt.
»Sie ist ein Goldmädchen, ein prächtiges, braves Kind, und verdiente einen bessern Bruder als du bist! Warum sie aber eben in dieser Minute vor meiner Seele steht, als hätte ich sie so treu wie ihr Spiegelbild porträtiert, weiß ich nicht; denn wir sehen wohl die Gedanken blühen, wissen aber nicht, wo sie gesät sind. Genug, obwohl meine Gedanken täglich zwanzig- bis dreißigmal nach Dresden und Teplitz reisen, so haben sie doch in dieser Minute einen ganz eigenen, mächtigen Flug dahin genommen, sie ziehen wie Schwalben nach der Heimat. Es muß seine Ursache haben, denn alles in der Schöpfung hat seine guten Gründe; ich will mir's aber merken, daß ich am 17. August genau abends zehn Uhr an Marien gedacht habe, und daß sie mir gerade in dieser Minute noch zehnmal lieber geworden ist als sonst.«
Ludwig drückte dem Freunde warm die Hand. Schon oft hatte er zu entdecken geglaubt und sich im stillen darüber gefreut, daß in Bernhards Brust eine leise, warme Liebe für die Schwester wohne, doch der eigentümliche Mensch ließ selbst den Freund fast niemals anders als durch die verzerrenden, gefärbten Gläser scherzenden Humors in das Innere seiner Brust schauen. Und überdies hatte Ludwig stets das Gefühl, als wenn Bernhards Seele von so vielfachen, größern Empfindungen und wildern, tiefern Leidenschaften, selbst solchen, unter denen sich eine weibliche Gestalt verschleierte, bewegt würde, daß die stille Blume einer Liebe zu der sanften, freundlichen Marie in diesem stürmenden Chaos unmöglich Wurzel schlagen konnte. Es lag etwas in seiner Natur, das zu sagen schien: ich möchte wohl unter dem Schatten dieser Bäume weilen, diese Frucht brechen, in dieser Hütte traulich wohnen; aber ich kann nicht, ich darf nicht, denn eine unbekannte, übermächtige Gewalt treibt mich wider meinen Willen vorwärts. Gleich dem Strome muß ich an den freundlichen Ufern vorüber, und spiegele ich auch bisweilen den blauen, lächelnden Himmel ab, rasch brausen die wilden, schäumenden Wogen nach und verzerren das sanfte Bild wieder. So sehr sich diese Brust nach einem fremden Herzen sehnt, ich darf keins zu mir heranziehen, denn ich müßte es in den tobenden Strudel meines Geschicks hinabreißen. Eine zarte Blüte würde ich, wenn ich sie an diese glühende Brust risse, nur versengen, daß sie schnell verdorrt herabsänke – ich würde sie vernichten, und wäre sie mir teuerer als mein Leben. Semele stirbt an der Brust des Zeus, selbst der Vater der Götter vermag ihr Geschick nicht zu wenden, so tief die Wunde in sein eigenes unsterbliches Herz dringt. – Doch diese eine warme Äußerung, welche Bernhard soeben getan, verscheuchte plötzlich alle diese Empfindungen bis auf die Erinnerung daran; mit herzlichem Tone erwiderte Ludwig daher: »Es ist wohl natürlich, daß du an sie denkst. In ernsten, tiefaufregenden Augenblicken unsers Lebens treten die Gestalten unserer Lieben um so lichter hervor, je düsterer der Grund ist, auf dem sie sich abmalen. Auch ich–«
»Ja, ja, du hast recht,« sprach Bernhard, halb ablenkend, halb scherzend, »das Bild hier ist verteufelt schwarz grundiert; aber es kommt schon Licht hinein, denn die Pechfackeln da unten am Himmel brennen immer loher auf. Man wird bald die Mäuse auf dem Felde laufen sehen. Aber ich finde, der Dnjepr ist verwünscht kalt, und dein Gaul hat mir noch dazu ein ganzes Maul voll Wasser über die Lende gespien. Wenn du ein guter Kamerad sein willst, so mußt du besser auf dein Pferd aufpassen. Gott sei Dank! Land! Ich habe nie viel von den Seereisen gehalten.« Unter diesen Worten ritten sie das jenseitige, fast noch steilere Ufer hinauf.
Als das Regiment versammelt war, rückte Rasinski, dem der Bote fortwährend zur Seite blieb, in möglichster Stille gegen das gerade
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