1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Liebesbriefen nicht unähnlich sind. Lesen Sie einmal hier diese Anzeige, die soeben den Gegenstand unsers Gesprächs bildet.« Ludwig warf einen gleichgültigen Blick in das Blatt. Doch kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, als er der Herrschaft über sich selbst fast nicht mehr mächtig war. Die Worte, die das neugierige Erstaunen der Gesellschaft erregt hatten und in ihm einen wahrhaften Sturm wechselnder Empfindungen aufjagten, lauteten folgendermaßen:
»An den unbekannten Freund!
»Dem Retter in der höchsten Not, der die Fremde als Schwester begrüßte, sie treu wie ein Bruder geleitete und beschirmte, heißen, unvergeßlichen Dank. Zerriß er selbst die Bande ebenso schnell, wie eine höhere Hand sie wunderbar knüpfte, so erfahre er, daß sein Wille geehrt wird, daß nur gerührte Dankbarkeit die Scheidende erfüllt. Doch trennte unbegreiflicher Zufall die Schwester von dem Bruder, o so glaube er ihr, daß die tiefste Wehmut und Trauer sie in die weiteste Ferne begleiten wird. Führen die verschlungenen Pfade menschlicher Geschicke ihn jemals wieder mit der jetzt weit von ihm Getrennten zusammen, o so soll er eine treue Schwester wiederfinden, die ihm jedes Opfer freudig bringen wird, weil sie ihm alles, alles dankt.
»Die gerettete B.....«
»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte der Nachbar Ludwig, der den Blick nicht von den teuern Zeilen wegwenden konnte, und dem verdunkelnde Tränen ins Auge gedrungen waren.
»Seltsam, in der Tat seltsam!« erwiderte er hastig und suchte seine Bewegung hinter dem rasch hervorgezogenen Tuche zu verbergen. »Ich finde den Brief so rührend,« fuhr er mit einem erzwungenen Lächeln fort, »er erregt so tausend Ahnungen und Vermutungen, daß er mich fast mehr bewegt hat, als er sollte. Ich bin aber einmal ein romantischer Träumer!«
»Es ist uns allen nicht anders ergangen,« entgegnete der Nachbar, »denn gerade das Geheimnisvolle dieser Worte erregt so romantische Ahnungen, daß man nie jung gewesen sein, nie dichterisch gefühlt haben müßte, wenn man nicht in der Phantasie das reizendste weibliche Wesen erblicken, die süßesten Tränen, die je ein holdes Auge getrübt haben, fließen sehen sollte. Ja, ich möchte beinahe behaupten, daß jedermann in seinem Leben irgendein Verhältnis gehabt hat, an das hier mit wunderbarer Macht erinnernder Bewegungen gestreift wird.«
»Und gerade in dieser jetzigen so ereignisvollen Zeit,« bemerkte ein dritter, »wo die friedlichsten, die sichersten Lebensverhältnisse häufig durch Geschicke betroffen worden sind, die den wunderbarsten Abenteuern nichts nachgeben, gerade jetzt knüpfen sich die vielfachsten Vorstellungen an diese Zeilen.«
Das Gespräch über diesen Gegenstand wurde aufs neue sehr lebhaft und gab Ludwig Zeit, sich zu fassen. Doch stand er Qualen des Todes aus während der Stunde der Mahlzeit. Endlich war sie vorüber, hastig, aber unvermerkt steckte er das teuere Blatt in den Busen, verließ den Saal und eilte fast betäubt auf sein Zimmer. Hier stürzte ein Strom lange zurückgehaltener, heißer Tränen über seine Wangen. Von sehnsüchtigem Schmerz überwältigt, flehte er aus der tiefsten Tiefe seiner Seele: »O, gütiger Gott, trenne mich nicht auf ewig von ihr, laß das holde Gestirn noch einmal auf meinem dunkeln Pfade leuchten! Zu grausam wärest du, hättest du mir des Himmels Seligkeit nur darum gezeigt, um mich auf ewig in die Finsternis der Ausgeschlossenen zurückzustoßen!«
Zweites Buch.
Erstes Kapitel.
»Nun, liebe Mutter, ist alles in Ordnung«, sprach Marie mit freudeglänzenden Augen und einem stillen Lächeln in dem sanften Angesicht, indem sie ins Zimmer trat und auf den Tisch, an welchem die Mutter saß und nähte, einen Schlüssel legte. »Jetzt mag er in jeder Minute kommen, er findet uns bereit.«
»Du hast doch auch die Bücher in den Schrank eingeräumt?« fragte die Mutter.
»Ich denke, nicht das Kleinste habe ich vergessen,« entgegnete Marie, »und wenn er noch der alte Bruder ist, wenn seine Neigungen sich nicht ganz geändert haben, so wird sein Zimmer ihm gewiß gefallen. Es hat sich alles gar zu glücklich getroffen. Daß wir gleich eine Wohnung fanden, die für uns alle Raum hat und unserer gemeinsamen Neigung so sehr entspricht! Nun aber kann ich auch die Stunde seiner Ankunft kaum noch erwarten, so sehnt sich mein Herz, wieder an seiner treuen redlichen Brust zu schlagen! Doch du, liebe Mutter, bist mir nicht freudig genug! Haft du eine Sorge? Ein
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