1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
er. »Hm! er sah gut aus! Nicht wahr? Ein Maler darf wohl aufmerksam sein auf dergleichen. Hm! Ich hätt' es nicht gedacht. Kein schöner Zug an dem ganzen Gesicht und doch so etwas! Zum Teufel, ich weiß noch gar nicht, mit welcher Gattung von Linien und Strichen man das ausdrückt, was auf der Stirn stand, was ich in dem Auge gelesen habe! Aber ich bitte dich, sieh nur alle die vertrackten, kahlen, fahlen, nüchternen, verfluchten Physiognomien hier um uns her. Hab' ich denn noch niemals ein Gesicht gesehen? Sind denn das Gesichter? Ich weiß gar nicht, was ich davon denken soll; in meinem Leben habe ich nicht so viel schäbige, abgenutzte, verbrauchte Philisterköpfe beisammen getroffen. Mir wird zumute, als müsse ich einen Schluck Seifenwasser saufen hinter einem Becher Johannisberger, wenn ich die Augen im Kreise herumspazieren lasse.«
Ludwig suchte vergeblich nach einem Bilde oder nach Worten, um den ähnlichen Eindruck, den er empfand, zu schildern. »Mir war es,« fing er an, »als zöge ein mächtiger Adler mit ausgebreiteten Schwingen vorüber, mitten durch eine Schar niedern Gevögels hindurch.« – »Ja ja, du hast recht,« antwortete Bernhard, »lauter Enten, Gänse, Starmatze und Spatzen. Zuverlässig ein Löwe, der mitten in einer Herde Esel vorbeitrottierte. Und zum Teufel, traben wir beide nicht etwa auch hinterdrein? Oder glaubst du, daß unsere zwei Gesichter geleuchtet hätten wie seine Nebensonnen an dem grauen fahlen Firmament, das ihn umgab?«
Unter diesen Worten hatte er Ludwig in den Arm gefaßt und zog ihn aus dem Strom des Gedränges in eine Seitengasse fort. Ernst, schweigend, gingen sie nebeneinander hin. Plötzlich sprach Bernhard kurz: »Gute Nacht, Bruder! Auf Wiedersehen bis morgen!« Damit riß er sich in seiner seltsamen Weise los und verschwand im Dunkel. Ludwig ging nachdenklich nach Hause; selbst das freundliche »Gute Nacht!« welches ihm Marie noch sagte, konnte seine ernsten, ja finstern Gedanken nicht verscheuchen.
Drittes Kapitel.
Am andern Vormittage machte Ludwig einen Spaziergang auf der Brühlschen Terrasse. Plötzlich stand Bernhard vor ihm. »Salve!« rief ihm dieser zu. »Eben habe ich unsern Zeus oder Pluto, wie du willst, reiten sehen.«
»Den Kaiser?« rief Ludwig lebhaft, indem er den Gruß durch die dargereichte Hand erwiderte; »nun wie sieht er bei Tage aus?«
»Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich dir es beschreiben soll,« begann Bernhard; »es war viel Lärmen umher, Glockenläuten, Kanonenschüsse, Volksgetümmel, Truppen, die zur Parade wollten, kurz aller Teufel; aber ich hörte nichts. Wenn ich mich aber jetzt so recht als Zeichner auf den Kaiser besinnen soll, so war es, deucht mir, ein fahlgelbes Gesicht, eckig, zackig im Profil, wie es ein Hund besser in ein Stück Papier fressen kann. Ein paar grauschwarze Augen, ein kurzer untersetzter Kerl – weiß der Teufel was für ein lumpiger Kobold. Aber sieh, das ist's eben, worüber ich sogleich, wenn ich nicht etwas anderes nötig zu tun hätte, verrückt werden könnte und einigermaßen überschnappen, weil ich gar nicht begreife, was eigentlich für ein Spuk mich betört hat. Bald war mir's, als zöge eine schwere Gewitterwolke durch einen blaßblauen nüchternen Himmel und werfe Blitze aus, daß die Sonne wie ein krankes Mädchen dagegen aussah, dann kam mir's wieder vor, als ziehe ein düsterrot funkelndes Gestirn zwischen grauen Nebelwolken hindurch, so daß alles blutig erhellt ward ringsumher, endlich, und das hielt am längsten an – du wirst mich aber auslachen – erschien mir's, als werde der Rheinfall plötzlich stille, oder als bedecke die feierliche Stille sein Getöse, was freilich sehr unvernünftig klingt.«
»Wahrlich nicht so unvernünftig, als du glaubst«, rief Ludwig. »Denn was ist Stille? Es gibt eine feierliche, erhabene Stille der Seele, die mitten in dem unruhigsten äußern Treiben stattfinden kann. Als der Kaiser gestern vorüberfuhr, war mir's als müsse jeder, der ihn anblicke, in dieser schweigenden, gespannten Ehrfurcht des Gemütes, sich ihm innerlich neigen; und so würde mich auch jetzt das Gefühl tiefer Stille durchdrungen haben, trotz des Glockenläutens, des Kanonendonners und des Jubelrufes der rohen Massen. Und da du den Rheinfall nanntest, muß ich dir sagen, daß ich dort wie an dem tobenden Sturz der Reuß auf dem Sankt Gotthard noch ganz kürzlich eine ähnliche Empfindung gehabt habe. Denn die Erhabenheit in der Umgebung dieser Naturschauspiele
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