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1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

1812 - Ein historischer Roman (German Edition)

Titel: 1812 - Ein historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ludwig Rellstab
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kolossal über ihre Umgebung emporragen. Mitten in diesem Teppich, der von tausend bunten, aber durch die Ferne matter schimmernden Farben gewebt wird, steht der frische grüne Berg selbst, mit seinen bald sanftern, bald schroffem Waldhängen, als das Herz des weiten Panoramas. Er fügt zur wunderbar erregenden Aussicht romantische, wahrhaft malerische Ansichten, während die Ferne weniger der Malerei als der Poesie angehört und fast nur durch den bewußten Gedanken ihre Reize erhält, weil sie dem Menschen das Gefühl der Erweiterung und Beschränkung seiner Kräfte, zugleich gewährt. Denn indem sein Auge mit unbegreiflicher Schnelligkeit die fernsten Punkte verknüpft, weite Räume durchfliegt, meilenlange Strombahnen oder Landstraßen in einem Blick verfolgt und übersieht, fühlt sich der Fuß um desto enger gefesselt; aber gerade dieser Gegensatz ist es vielleicht, der weiten Aussichten einen so wunderbaren, geheimnisvollen Reiz gibt, da wir jede Größe und Kraft ja nur durch ein vergleichendes Maß empfinden.
    Während die Männer fast gleichgültig über die naheliegenden Schönheiten hinausblickten und die ihrem rastlos vorwärtsstrebenden Geiste verwandten Fernen durchflogen, wandte sich der Blick der Frauen aus gleichen Ursachen auf die vertrautere Nähe. Sie betrachteten die Räume, die sie eben durchwandelt hatten, ja Marie sah mit einem besondern Wohlgefallen auf den grünen, mit Blumenkränzen geschmückten Rasenplatz hinunter, auf dem sie soeben noch geweilt hatte, und wo sich die kränzewindenden Mädchen und Burschen in der Tat sehr zierlich ausnahmen.
    Bernhards Blick schweifte über die Erde hinweg in die seltsamen Wolkengestalten am Horizont hinein, wo er für seinen phantastischen Sinn mehr Nahrung fand, zumal da die heimischen Gegenden ihm gegen die grotesken nordischen Landschaften, in denen er zuletzt geweilt und die er vielfach gezeichnet hatte, ein wenig nüchtern erschienen. Diesmal aber wurde aus dem Träumer, der in Nebelgebilde und flüchtiges Gewölk hineinschaute, ein sehr praktischer Mensch. »Es gibt noch ein Gewitter,« sprach er; »seit Mittag hat es gebraut, jetzt aber haben wir die zweite Wetterwendezeit, nämlich sechs Uhr; das Zünglein der Wetterwage steht zwischen Mittag und Mitternacht gerade ein. Nun muß sich's schnell entscheiden, ob es sich der Finsternis oder dem Lichte zuneigt, das heißt, ob wir ein Donnerwetter bekommen oder heitern Himmel behalten. Ihr müßt wissen, ich bin als Seereisender ein starker Wetterkundiger geworden; daher prophezeie ich nichts Gutes, denn der Wind setzt wahrlich um und fängt an auf mächtigen Flügeln zu rauschen.«
    Wirklich trieb von dem Gebirge her schwarzgraues Gewölk herauf, das nur deshalb die Luft noch nicht verdunkelt hatte, weil die Sonne gerade an der entgegengesetzten Seite des Horizonts stand, wo der Himmel noch im reinsten Blau glänzte. Zugleich erhob sich ein hohles Brausen, und man sah an dem Wogen der niedergebeugten Baumgipfel schon von weitem her den Strom der Lüfte über den dunkeln Waldhöhen heranziehen. Es schien, als habe Bernhards prophezeiendes Wort die Entscheidung gegeben, so plötzlich brach das Ungewitter herein. Ein starker Windstoß umsauste den Turm und hätte in unvermutetem Überfall fast die Tücher und Hüte der Frauen entführt. Einzelne schwarze, weit vorgetriebene Wolken zogen jetzt vor die Sonne, so daß riesenhafte Schatten über die Landschaft fielen, und die Luft sich mit jedem Augenblicke mehr und mehr verfinsterte.
    Die Mädchen sahen einander ängstlich verlegen an; das Gewitter schien allem Anschein nach sehr heftig werden zu wollen und war schon so nahe herangerückt, daß man ihm nicht mehr entfliehen konnte. Ihre Lage wurde daher in der Tat bedenklich. Indessen gestaltete sich das Schauspiel so großartig, daß der Anblick desselben einigermaßen die Besorgnisse in den Hintergrund treten ließ. In schweren Massen zog das wettergraue, schweflige Gewölk von dem östlichen Horizont herauf und hüllte allmählich das Gebirge in seine düstern Schleier ein. Mit ihm senkte sich Nacht auf die ganze Landschaft; nur einige zum Teil mit hellen Gebäuden gekrönte Höhen, auf welche der zwischen den Wolkenrissen durchblitzende Sonnenstrahl fiel, leuchteten auf dem dunkeln Grunde in desto klarern Umrissen und Farben. Der Strom wand sich finster gekräuselt unter dem Bogen des Gewitterhimmels dahin und spiegelte ihn aus verdunkelnder Tiefe zurück. Im Westen blickte das klare Auge des reinsten

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