182 - Im Dorf der Telepathen
unwürdig, ihre heilige Traumzeit zu betreten…«
»Wir leben hier von ihren Gnaden«, fügte Roohan hinzu. Er klang traurig. »Solange wir unter uns waren, hat unsere Gemeinschaft wenigstens funktioniert. Aber die Fremden, die sie uns bringen, werden immer zahlreicher! Wenn sie noch mehr hier abladen, gehen wir unter!«
»Für viele Anangu ist es kein Problem, in die Traumzeit zu wechseln.« Doc schaute Matt an. »Aber wir müssten ein Kollektiv bilden… und würden dabei ein lebensgefährliches Risiko eingehen, denn irgendwann werden sie es bemerken. Und wenn nicht sie, dann der Ahne.«
»Der Ahne?« Matt runzelte die Stirn. »Wer ist das?«
»Die Kraft, die wir nicht kennen«, murmelte Doc geheimnisvoll. »Die Macht, die alles sieht.« Er zuckte die Achseln. »Die Anangu könnten dir sicher mehr darüber sagen. Wir kennen sie nur vom Hörensagen.«
Matt strich sich übers Kinn. Die Sache wurde immer mysteriöser. Auf was hatte er sich da eingelassen?
»Ihr kennt meinen Plan.« Malie schaute sich im Kreis um. »Es geht um den Fortbestand eurer Gemeinschaft. Ihr müsst euch entscheiden.« Sie schaute die Männer und Frauen an.
»Du brauchst mindestens ein Dutzend Männer, um den Wechsel zu vollziehen«, sagte Doc. »Ich bin vielleicht nicht der Mutigste hier, aber ich mache mit.«
»Ich auch«, sagte Roohan. Auch seine Freunde meldeten sich.
»Ich weiß euren Mut zu schätzen, Jungs«, sagte Doc.
»Ich danke euch, dass ihr uns den Rücken stärkt.«
»Na schön«, sagte nun auch Sammy. »Unter der Voraussetzung, dass meine Frau mir nicht den Arm bricht, bin ich ebenfalls dabei.«
»Mir fällt leider keine glaubwürdige Ausrede ein«, seufzte Jerry. »Also bin ich wohl auch fällig…« Er zupfte an seiner Nase. »Aber das reicht noch nicht. Ich schlage vor, wir gehen raus und suchen uns noch ein paar andere Verrückte…«
***
Nach Sonnenuntergang wimmelte es in der Bürgermeisterei von Menschen.
Alle, die bei der Verkündung von Malies Plan dabei gewesen waren, hatten sich in Lylahs Räumen versammelt. Es waren aber auch viele andere gekommen: die Frauen, Kinder und Geschwister der Wagemutigen und ihre Nachbarn, die den Aufmarsch gesehen und sich über das nun lammfromme Rüpeltrio gewundert hatten.
Dass ausgerechnet Roohan, Corky und Elviz bei diesem riskanten Unternehmen mitmachten, hatte mehrere Einheimische aus der Reserve gelockt: Niemand wollte sich Feigling nennen lassen.
Während Lylah die Dörfler über ihr Vorhaben ins Bild setzte, saß Malie im größten Raum des Hauses auf dem Boden und wurde von Doc, Sammy, Jerry, Roohan, Corky, Elviz und einem halben Dutzend anderer kniender Männer umringt. Alle fassten sie an.
Matt fragte sich, wie der Wechsel auf die Meta-Ebene der Traumzeit vonstatten ging. Niemand hatte die Zeit gehabt, ihn über das aufzuklären, was hier offenbar jedes Kind wusste. Scharen von Ethnologen hatten den Begriff
»Traumzeit« für eine Bezeichnung der Anangu-Schöpfungsgeschichte gehalten. Dass mehr dahinter steckte, hatten zu seiner Zeit nur wenige Weiße vermutet.
»Fertig?«, hörte Matt Doc nun sagen.
»Ja.« Malie nickte und schloss die Augen. Das Experiment begann. In der Bürgermeisterei wagte niemand laut zu atmen.
Matt schaute aus dem Fenster. Ein etwa vierzehn Jahre alter Junge kam wie der Blitz zum Haus gelaufen. Auch Lylah sah ihn. Sie gab Eloise ein Zeichen, und diese huschte zur Tür, öffnete lautlos und trat ins Freie. Es war sicher nicht gut, wenn ein Moment höchster Konzentration von aufgeregtem Geschrei gestört wurde.
Malie musste schnell in die Traumzeit wechseln und ebenso schnell zurückkehren.
Lylah legte die Hand auf Matts Schulter. Sie deutete mit dem Kinn auf Eloise und den Jungen und machte eine Geste, die besagte, er solle zu ihnen gehen.
Matt warf einen Blick in die Runde. Er sah die gespannten Gesichter der Einheimischen und registrierte das aufgeregte Zucken von Malies Nasenflügeln.
»Jetzt?«, raunte Doc.
»Ja…« Malie nickte unmerklich.
»Auf geht’s…« Docs Hände drückten Malies Knie. Ihr Kopf sank auf ihre rechte Schulter. Ihr Leib erschlaffte.
Matt riss sich von ihrem Anblick los und eilte auf leisen Sohlen zu Eloise. Sie stand mit dem Jungen vor der Tür.
»Was ist denn, Eloise?«
»Sag’s ihm, Joe.« Eloise strich dem Jungen über den Kopf.
»Anangu…« Joe deutete aufgeregt in die Richtung, aus der er gekommen war. »In fünf Minuten überqueren sie den Fluss!«
Eine Adrenalinwoge schoss heiß durch
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