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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ahnte nicht, dass nichts davon stimmte. Joseph und Angie existierten ebenso wenig wie Josies Job als Nachhilfelehrerin.
    An diesem Morgen verließ Josie wie jeden Morgen das Haus und nahm den Bus. An der Schule fuhr sie vorbei. Sie stand erst an der Endstation auf, von wo es nur noch eine Viertelstunde zu Fuß zum Friedhof Whispering Pine war.
    Es gefiel ihr hier. Auf dem Friedhof begegnete sie niemandem und sie musste nicht reden, wenn ihr nicht danach war. Josie ging den gewundenen Weg entlang, der ihr inzwischen so vertraut war. Sie kannte jede Senke, jede Biegung. Und sie wusste, dass der kräftig blaue Hortensienbusch auf halber Strecke zu Matts Grab stand und dass es nach Waldgeißblatt roch, wenn man nur noch wenige Schritte entfernt war.
    Mittlerweile war ein Grabstein aufgestellt worden, ein weißer Marmorblock, in den Matts Name gemeißelt war. Josie setzte sich auf den kleinen, inzwischen grasbewachsenen Erdhügel, der so warm war, als wäre das Sonnenlicht in den Boden gesickert, um ihn für Josie zu wärmen. Sie griff in ihren Rucksack und holte eine Flasche Wasser heraus, ein Sandwich mit Erdnussbutter, eine Tüte Salzbrezeln.
    »Nächste Woche fängt die Schule wieder an, nicht zu glauben, was?«, sagte sie zu Matt. Natürlich rechnete sie nicht damit, dass er ihr antwortete, aber es tat ihr einfach gut, mit ihm zu reden. »Wir gehen aber nicht in unser altes Gebäude. Das wird noch umgebaut und ist wahrscheinlich erst um Thanksgiving fertig.«
    Josie glaubte nicht an Geister, aber sie glaubte an Erinnerungen, vor denen du auf alle Zeit davonlaufen konntest, ohne sie je abzuschütteln.
    Josie streckte sich aus, ihre Haare wie ein Fächer auf dem frischen Gras. »Hast du es gern, wenn ich herkomme?«, flüsterte sie. »Oder würdest du sagen, ich soll verschwinden, wenn du reden könntest?«
    Lacy war zwei Stunden bis Boston gefahren, um Peter eine schicke Garderobe für den Prozess zu kaufen. Bei Filine's war die Auswahl schier unerschöpflich. Sie schielte auf ein Preisschild und schnappte nach Luft, merkte dann aber, dass es ihr egal war. Wahrscheinlich war es das letzte Mal, dass sie für ihren Sohn etwas zum Anziehen kaufte.
    Sie bewegte sich systematisch durch die Herrenabteilung des Kaufhauses. Sie kaufte Unterwäsche aus feinster Baumwolle, hochwertige weiße T-Shirts, Kaschmirsocken. Sie suchte eine Khakihose bester Qualität aus, wählte ein passendes Buttondownhemd dazu. Sie entschied sich für ein blaues Sakko, wie Jordan empfohlen hatte. Er soll so aussehen, als wollten Sie ihn auf ein Eliteinternat schicken, hatte er gesagt.
    Selbst als Lacy bereits alles beisammen hatte, stöberte sie weiter herum. Sie befingerte Seidentaschentücher, die weich über ihre Hand glitten, und suchte eines in der Farbe von Peters
    Augen aus. Sie wühlte sich durch Ledergürtel - schwarz, braun, Kroko - und Krawatten mit Punkten, Paisleymuster oder Streifen. Sie entschied sich für einen Bademantel, der so weich war, dass ihr fast die Tränen kamen, Pantoffel aus Lammfell, eine kirschrote Badehose. Sie kaufte und kaufte, bis das Gewicht auf ihren Armen so schwer war wie ein Kind.
    »Oh, warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte eine Verkäuferin, nahm ihr die Sachen ab und trug sie zur Kasse. Sie begann, sie nacheinander zusammenzufalten. »Ich kenne das Gefühl«, sagte sie mit einem verständnisvollen Lächeln. »Als mein Sohn fort-musste, dachte ich, ich würde sterben.«
    Lacy starrte sie an. Gab es so etwas wie einen Geheimbund von Müttern, denen ihre Kinder das Herz gebrochen hatten?
    »Man meint, es wäre für immer«, sagte die Frau, »aber glauben Sie mir, wenn sie dann in den Semesterferien zurückkommen und einem die Haare vom Kopf fressen, können Sie es kaum erwarten, dass sie mit dem College fertig werden und auf eigenen Füßen stehen.«
    Lacy wurde blass. »Genau«, sagte sie, »College.«
    »Meine Tochter studiert in New Hampshire und mein Sohn in Rochester«, sagte die Verkäuferin.
    »Harvard. Mein Sohn fängt in Harvard an.«
    »Donnerwetter«, sagte die Verkäuferin. »Da muss er aber ordentlich was auf dem Kasten haben.«
    »Hat er«, sagte Lacy, und dann erzählte sie der fremden Frau von Peters erfundenem Studienplatz in Harvard, bis sie schon fast anfing, sich selbst zu glauben.
    Kurz nach drei rollte Josie sich auf den Bauch, breitete die Arme aus und drückte das Gesicht ins Gras. Es sah aus, als klammerte sie sich an den Boden. Sie atmete tief ein, dann steckte sie das Butterbrotpapier

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