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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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und ihre leere Wasserflasche wieder in den Rucksack und ging den Weg zurück zum Friedhofstor. Vor dem Eingang stand ein Auto. Und Patrick lehnte mit verschränkten Armen an der Motorhaube.
    »Was machen Sie hier?«, fragte Josie.
    »Dasselbe könnte ich dich fragen.«
    Sie zuckte die Achseln.
    Josie hatte eigentlich nichts gegen Patrick Ducharme. Er machte sie nur nervös, und das aus vielerlei Gründen. Sie konnte ihn nicht ansehen, ohne an jenen Tag zu denken. Aber jetzt konnte sie ihm nicht mehr ausweichen, weil er auch der Geliebte ihrer Mutter war, und in gewisser Weise machte ihr das noch mehr zu schaffen. Ihre Mutter war im siebten Himmel, während Josie sich zum Friedhof schleichen musste, um ihren Freund zu besuchen.
    Patrick trat auf sie zu. »Deine Mutter denkt, dass du gerade matheschwachen Schülern auf die Sprünge hilfst.«
    »Hat sie gesagt, Sie sollen mich beobachten?«, fragte Josie.
    »Deine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin«, sagte Patrick. »Ich wollte mit dir reden.«
    »Mein Bus fährt gleich.«
    »Dann bring ich dich hin, wo du hinwillst«, sagte er ungeduldig. »Weißt du, in meiner Arbeit wünschte ich mir oft, ich könnte die Uhr zurückdrehen - das Opfer einer Vergewaltigung schützen, ehe es zum Opfer wird, das Haus bewachen, ehe der Dieb einbricht. Ich weiß, was das für ein Gefühl ist, wenn man absolut nichts tun kann, um etwas ungeschehen zu machen. Und ich weiß, wie es ist, wenn man mitten in der Nacht aufwacht und denselben Augenblick wieder und wieder durchlebt. Ehrlich gesagt, ich wette, wir beide spielen denselben Augenblick durch.«
    Josie schluckte. In all den Monaten hatte niemand so treffend beschrieben, wie sie sich fühlte. Aber sie durfte Patrick ihre Schwäche nicht zeigen, obwohl sie das Gefühl hatte, dass er sie trotzdem sah. »Tun Sie nicht so, als hätten wir irgendwas gemeinsam«, sagte Josie.
    »Haben wir aber«, entgegnete Patrick. »Deine Mutter.« Er sah Josie in die Augen. »Ich mag sie. Sehr. Und ich wäre froh, wenn du damit einverstanden bist.«
    Josie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie Matt gesagt hatte, dass er sie mag. Sie fragte
    sich, ob das je wieder jemand zu ihr sagen würde. »Meine Mutter ist erwachsen. Sie kann selbst entscheiden, mit wem sie rumvö-«
    »Tu's nicht«, fiel Patrick ihr ins Wort.
    »Was?«
    »Sag nichts, was dir hinterher leidtut.«
    Josie machte einen Schritt zurück, und ihre Augen glitzerten. »Wenn Sie denken, Sie müssten sich bei mir einschmeicheln, um sie für sich zu gewinnen, dann liegen Sie falsch. Versuchen Sie's lieber mit Blumen und Pralinen. Meiner Mutter bin ich scheißegal.«
    »Das stimmt nicht.«
    »Sie kennen uns ja wohl kaum lange genug, um das beurteilen zu können, oder?«
    »Josie«, sagte Patrick, »deine Mutter liebt dich.«
    Josie spürte, wie ihr die Wahrheit die Kehle zuschnürte. »Aber nicht so sehr wie Sie. Sie ist glücklich. Und ich ... ich weiß, ich sollte mich für sie freuen ...«
    »Aber du bist hier«, sagte Patrick und deutete Richtung Friedhof. »Und du bist allein.«
    Josie brach in Tränen aus. Sie wandte sich beschämt ab, und dann spürte sie, wie Patrick sie in die Arme schloss. Er sagte nichts, und in diesem Moment mochte sie ihn sogar, weil jedes Wort den Raum eingenommen hätte, den sie für ihren Schmerz brauchte. Er ließ sie einfach weinen, bis es schließlich aufhörte, und Josie lehnte sich an seine Schulter.
    »Ich bin gemein«, flüsterte sie. »Ich bin neidisch.«
    »Ich glaube, sie würde das verstehen.«
    Josie löste sich von ihm und wischte sich über die Augen. »Werden Sie ihr sagen, dass ich hierherfahre?«
    »Nein.«
    Sie sah verblüfft zu ihm hoch.
    »Übrigens«, sagte Patrick. »Es stimmt nicht.«
    »Was?«
    »Dass du allein bist.«
    Josie sah zu dem Hügel hinüber. Vom Tor aus war Matts Grab
    nicht zu sehen, aber es war noch immer da - so wie alles, was mit jenem Tag zusammenhing. »Geister zählen nicht.«
    Patrick lächelte. »Mütter schon.«
    Am meisten hasste Lewis das Geräusch, wenn die Metalltüren zufielen. Es spielte keine Rolle, dass er das Gefängnis in dreißig Minuten wieder verlassen konnte. Die Häftlinge konnten das nicht, allein das war entscheidend. Und einer dieser Häftlinge war derselbe Junge, dem er beigebracht hatte, ohne Stützräder Fahrrad zu fahren; derselbe Junge, der in der Vorschule für ihn einen Briefbeschwerer gebastelt hatte, den er noch immer benutzte; derselbe Junge,

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