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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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doch«, widersprach Patrick.
    »Sie sollten ihr sagen, was in der Schule passiert ist«, stellte die Richterin klar. »Nicht, dass ihr Freund tot ist!«
    »Das hätte sie doch ohnehin erfahren, früher oder -«
    »Später«, fiel ihm die Richterin ins Wort. »Sehr viel später.«
    Die Schwestern kamen aus dem Zimmer. »Sie schläft jetzt«, flüsterte eine von ihnen. »Wir sehen gleich noch mal nach ihr.«
    Sie warteten beide, bis die Schwestern außer Hörweite waren. »Hören Sie«, sagte Patrick gepresst. »Ich habe heute Kinder mit einer Kugel im Kopf gesehen, Kinder, die nie wieder werden gehen können, Kinder, die gestorben sind, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Ihre Tochter steht unter Schock... aber sie kann sich zu den Glücklichen zählen.«
    Seine Worte trafen sie wie ein Schlag ins Gesicht. Für einen kurzen Moment wirkte die Richterin auf Patrick nicht mehr wütend. Ihre grauen Augen blickten ernst, als sie all die schrecklichen Szenarien vor sich sah, die ihr selbst erspart geblieben waren. Ihr Mund wurde weich vor Erleichterung. Doch dann wurden ihre Gesichtszüge unvermittelt wieder glatt, ausdruckslos.
    »Es tut mir leid. Ich bin normalerweise nicht so unbeherrscht. Es war einfach ... ein furchtbarer Tag.«
    Patrick suchte vergeblich nach einer Spur von der Emotion, die sie für einen Sekundenbruchteil ergriffen hatte. Aalglatt. Das war der passende Ausdruck für sie.
    »Ich weiß, Sie machen nur Ihre Arbeit«, sagte die Richterin.
    »Ich muss demnächst mit Josie sprechen... aber deshalb bin ich nicht gekommen. Ich bin hier, weil sie die Erste war... ja, ich wollte mich nur vergewissern, dass es ihr gut geht.« Er schenkte Richterin Cormier ein ganz schwaches Lächeln. »Passen Sie auf sie auf«, sagte Patrick, und dann drehte er sich um und ging den Flur hinunter. Er spürte ihren Blick in seinem Rücken, es war, als berühre ihn eine Hand.

Zwölf Jahre zuvor
    An seinem ersten Vorschultag wurde Peter Houghton um 4 Uhr 32 wach. Er tappte ins Schlafzimmer seiner Eltern und fragte, ob der Schulbus nicht bald käme. Solange er zurückdenken konnte, hatte er zugeschaut, wie sein Bruder Joey zum Bus ging. Der Bus war für ihn immer ein gewaltiges Wunder gewesen: die kurze gelbe Schnauze, auf der sich die Sonne spiegelte, die Tür, die wie ein Drachenmaul auf- und zuklappte, der dramatische Seufzer, wenn er zum Stehen kam. Joey fuhr zweimal am Tag mit diesem Bus. Heute würde er das erste Mal mitfahren.
    Seine Mutter sagte, er sollte wieder ins Bett gehen und weiterschlafen, aber das konnte er nicht. Stattdessen zog Peter sich die Sachen an, die seine Mutter ihm extra für den großen Tag gekauft hatte, legte sich aufs Bett und wartete. Er war als Erster zum Frühstück unten, und seine Mutter machte ihm Pfannkuchen mit Schokoladenstreusel - sein Lieblingsessen. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und machte ein Foto von ihm am Frühstückstisch und dann noch eins, als er seine Jacke angezogen und seinen leeren Schulranzen umgeschnallt hatte. »Nicht zu fassen, mein Kleiner kommt schon in die Schule«, sagte seine Mutter.
    Joey, der inzwischen in die erste Klasse ging, sagte ihm, er solle nicht so eine Show abziehen. »Du gehst in die Schule«, sagte er. »Was ist denn daran so toll?«
    Peters Mutter knöpfte ihm die Jacke zu. »Für dich war das auch mal ganz toll«, sagte sie. Dann eröffnete sie Peter, dass sie eine Überraschung für ihn habe. Sie verschwand in der Küche und kam mit einer Superman-Lunchdose zurück. Superman hatte die Arme vorgestreckt, als wolle er sich von dem Metall in die Luft schwingen. Sein Körper war ein kleines bisschen höher als der übrige Deckel, wie die Buchstaben in Büchern für Blinde. Peter stellte sich vor, dass er seine Lunchdose auch im Dunkeln unter allen herausfinden könnte. Er umarmte seine Mutter zum Dank.
    Sie warteten an der Straße, und genau wie Peter es sich immer wieder erträumt hatte, tauchte der gelbe Bus über dem Hügelkamm auf. »Eins noch!«, rief seine Mutter und machte ein Foto von Peter, als der Bus stöhnend hinter ihm anhielt. »Joey«, sagte sie, »pass gut auf deinen Bruder auf.« Dann drückte sie Peter einen Kuss auf die Stirn. »Mein großer Junge«, sagte sie, und ihre Lippen zitterten, wie immer, wenn sie versuchte, nicht zu weinen.
    Plötzlich verwandelte sich Peters Magen in einen Klumpen Eis. Was, wenn die Schule doch nicht so toll war, wie er sie sich vorgestellt hatte? Wenn seine Lehrerin aussah wie eine Hexe?

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