19 Minuten
Wenn er sich beim Schreibenlernen dumm anstellte und alle sich über ihn lustig machten?
Zögernd stieg er die Stufen hoch in den Bus. Der Fahrer trug eine Armyjacke und ihm fehlten zwei Schneidezähne. »Hinten ist noch was frei«, sagte er, und Peter trottete den Gang hinunter auf der Suche nach Joey.
Sein Bruder saß neben einem Jungen, den Peter nicht kannte. Joey warf ihm einen Blick zu, als er vorbeikam, sagte aber kein Wort.
»Peter!«
Er drehte sich um und sah Josie, die auf den leeren Sitz neben sich klopfte. Sie hatte das Haar zu Zöpfen geflochten und trug einen Rock, obwohl sie Röcke doch eigentlich nicht ausstehen konnte. »Ich hab den Platz für dich freigehalten«, sagte Josie.
Er setzte sich neben sie und fühlte sich schon besser. Jetzt fuhr er endlich im Bus mit. Und er saß neben seiner allerbesten Freundin. »Coole Lunchdose«, sagte Josie.
Er hielt sie hoch, um ihr zu zeigen, wie man damit wackeln musste, damit es so aussah, als würde Superman sich bewegen, als plötzlich eine Hand über den Gang langte. Ein Junge mit langen Armen und einer nach hinten gedrehten Baseballkappe schnappte sich Peters Lunchdose. »He, du Knirps«, sagte er, »willst du mal sehen, wie Superman fliegt?«
Ehe Peter sichs versah, öffnete der ältere Junge ein Fenster und schleuderte Peters Lunchdose nach draußen. Peter sprang auf, lief auf die andere Seite und sah gerade noch, wie seine Lunchdose auf dem Asphalt aufplatzte. Sein Apfel rollte über die Straße und verschwand unter den Reifen eines entgegenkommenden Wagens.
»Hinsetzen!«, brüllte der Fahrer.
Peter sank zurück auf seinen Sitz. Sein Gesicht war kalt, aber seine Ohren brannten. Das Gelächter des älteren Jungen und seiner Freunde hallte laut in seinem Kopf. Dann spürte er, wie sich Josies Hand in seine schob. »Ich hab ein Erdnussbuttersand-wich«, flüsterte sie. »Das teilen wir uns.«
In einem Besprechungsraum des Untersuchungsgefängnisses saß Alex ihrem neuesten Mandanten gegenüber, Linus Froom. Er hatte am frühen Morgen mit einer Skimaske über dem Kopf und vorgehaltener Pistole eine Tankstelle überfallen, dabei aber dummerweise sein Handy verloren, wodurch er im Nu geschnappt worden war.
Alex blickte ihren Mandaten über den verkratzten Tisch hinweg an. Während ihre Tochter eine Geschichte vorgelesen bekam oder malte oder was auch immer am ersten Tag in der Vorschule gemacht wurde, saß sie hier mit einem Kriminellen zusammen, der zu blöd war, eine Tankstelle auszurauben. »Hier steht«, sagte Alex nach einem raschen Blick auf den Polizeibericht, »dass Sie sich mit Detective Chisholm angelegt haben, als er Sie über Ihre Rechte aufklären wollte.«
Linus sah sie aus seinem verpickelten Gesicht an. Er war höchstens neunzehn. »Der dachte, ich wär dumm wie Brot.«
»Das waren seine Worte?«
»Er hat mich gefragt, ob ich lesen kann.«
Das war Vorschrift. Jeder Cop musste sich vergewissern, dass der Verdächtige seine Rechte verstand. »Und Sie haben erwidert, >He, du Arschloch, sehe ich aus, als wäre ich schwachsinnig?<«
Linus zuckte die Achseln.
Alex kniff sich in den Nasenrücken. Solche zermürbenden
Augenblicke waren für sie als Pflichtverteidigerin an der Tagesordnung: Ungeheuer viel Energie und Zeit ging für Mandanten drauf, die ihr in einer Woche, einem Monat, einem Jahr wahrscheinlich ohnehin wieder gegenübersitzen würden.
Ihr Piepser meldete sich. Sie warf einen Blick auf die Nummer, bevor sie ihn abstellte. »Linus, es ist am besten, Sie bekennen sich schuldig, dann können wir für Sie Strafmilderung rausschlagen.«
Sie ließ Linus in der Obhut eines Aufsehers und verschwand ins Sekretariat, um zu telefonieren. »Gott sei Dank«, sagte Alex, als am anderen Ende abgehoben wurde. »Sie haben mich davor bewahrt, aus einem Fenster im zweiten Stock des Untersuchungsgefängnisses zu springen.«
»Soviel ich weiß, sind die Fenster vergittert«, sagte Whit Hobart lachend. »Ich hatte früher schon mal den Verdacht, dass die Gitter nicht für die Häftlinge sind, sondern für die Pflichtverteidiger, damit sie in Anbetracht der aussichtslosen Fälle nicht abhauen.«
Whit war Alex' Boss gewesen, als sie im Büro der Pflichtverteidiger von New Hampshire anfing, doch vor neun Monaten war er in den Ruhestand gegangen. Er fehlte Alex. Im Gegensatz zu ihrem leiblichen Vater hatte er Lob für sie übrig gehabt - statt immer nur Kritik. Sie wünschte, Whit wäre jetzt hier, und nicht in irgendeinem Rentnerparadies
Weitere Kostenlose Bücher