1980 Die Ibiza-Spur (SM)
ruhig geblieben, hatte fest auf seiner Sprosse gestanden, und die Bewegungen waren ihm sicher von der Hand gegangen. Doch dann, ganz plötzlich, geriet er in Gefahr, obwohl weder oben auf dem Turm noch unten, wo Christiane stand, sich irgend etwas verändert hatte. Stein, Holz und Eisen hatten sich als haltbar erwiesen und ihn sicher gemacht, und von unten drang kein Geräusch herauf, und trotzdem entstand – ganz unerwartet – eine lebensgefährliche Situation. Die Bedrohung kam aus seinem Innern. Es war, als sei vorher für eine ganze Weile alles vergessen gewesen, aber jetzt drängte es sich von einem Augenblick zum anderen wieder in sein Bewußtsein. Was, wenn Victor nun wirklich da unten lag, zugedeckt von wer weiß wie vielen Metern des dunklen, modrigen Wassers? Als er sich dieses schaurige Grab ausmalte, dazu die nicht minder schaurige Bestattung, womöglich bei lebendigem Leibe vorgenommen, da wurde ihm schwindlig. Er spürte, wie ihm die Kraft aus Händen und Füßen wich, wie die Knie nachzugeben drohten und es in Kopf und Bauch zu wirbeln begann. Alles trübte sich. Die vom Licht angestrahlten hellen Mauerfugen verschwammen, und der ganze Schacht wurde zu einem Tuschbild mit verwischten Konturen. Es war wie der Beginn einer Ohnmacht.
Mein Gott, das durfte nicht geschehen, nicht jetzt, nicht hier oben! Schnell warf er die Lampe auf das Holz, schloß die Augen, legte sich bäuchlings auf die Mauer und versuchte, die Schwäche zu überwinden, indem er ohne Bewegung, ja, soweit es möglich war, ohne jede Muskelanspannung liegenblieb und an nichts dachte. Es war wie bei einer Yoga-Übung, war der Versuch, alles Gedankliche abzuwehren, war ein meditatives Experiment, das er nie vorher ausprobiert hatte. Und es gelang. Er wurde tatsächlich ruhig. Seine Kräfte kehrten zurück. Er suchte mit den Füßen wieder Halt auf der Sprosse, richtete sich auf, steckte die Taschenlampe ein, hob die hölzerne Luke an und schob sie auf ihren Platz zurück, ersparte sich die zweite Kletterpartie auf dem Brunnenrand und benutzte die Leiter, auf der er stand. Mit dem rechten Fuß prüfte er die jeweils nächste Stufe, bevor er sie mit seinem ganzen Körpergewicht belastete. Als er halb unten war, gab es noch einmal einen Moment des Erschreckens, doch was ihn da so unvermittelt im Rücken berührt hatte, erwies sich als harmlos. Auf dieser Seite des Brunnens befand sich der Wald, und einige der Pinien reichten mit ihren Ästen bis an den Turm. Gegen einen solchen Ast war er gestoßen.
Er stieg weiter hinab. Auf den letzten Metern mußte er sich des immer dichter werdenden Astwerkes erwehren, sich an den widerspenstigen Zweigen regelrecht vorbeidrücken. Endlich kam er unten an, wollte gerade loslaufen, da fiel ihm ein, daß er Christiane tödlich erschrecken könnte, denn sie erwartete ihn ja auf der anderen Seite. Am Ende würde sie sogar die Pistole in der Hand halten, vielleicht vor lauter Panik einen Schuß abfeuern.
»Hallo!« rief er halblaut. »Ich bin schon unten.« Erst dann ging er weiter. Und als er unmittelbar vor ihr stand, sagte er noch einmal: »Hallo!« und nahm sie in die Arme.
»Mein Gott, Klaus, ich hatte solche Angst um dich!« »Du siehst, ich bin wieder da. Heil und munter. Es ist verrückt. Bestimmt ist da schon so mancher übermütige Junge nach oben geklettert, hat auf der Mauer herumgeturnt, ohne Angst, und uns beiden Hasenfüßen schlottern die Knie.«
»Wie sieht es da oben aus?«
»Der Schacht ist zu, aber es gibt einen Deckel, der sich Beiseiteschieben läßt. Der Brunnen ist sehr tief, sicher zwanzig Meter, bevor überhaupt das Wasser anfängt. Sonst war nicht viel auszumachen, nur die runde, gemauerte Wand bis nach unten, der dunkle Wasserspiegel, der faulige Geruch. Aber eine interessante Entdeckung hab ich gemacht. Es gibt auch innen eine Sprossenleiter, und vielleicht fahre ich doch irgendwann mal allein hierher und versuche den Abstieg. Der wird nicht schwieriger sein als der Aufstieg, nur ein Stück länger. Es ist sicher völlig überspannt, in diesem Schacht nach Victor zu suchen, aber er hat nun mal den alarmierenden Brief geschrieben und ist seit zwei Monaten verschwunden, und seine Spur führt auf diese Insel und in diesen Wald! Darum ist es so abwegig auch wieder nicht.«
»Da kann doch ein anderer nachsehen!«
»Wer?«
»Die Polizei.«
»Dann würde Hentschel davon erfahren, und unsere Mission wäre zu Ende oder doch erheblich erschwert.«
»Dann eben jemand, den du engagierst.
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