1Q84: Buch 1&2
sicher war es so. Deshalb war er an diesem Abend auf die Rutsche im Park geklettert, um ganz für sich die beiden Monde zu betrachten. Um ausführlich über verschiedene Möglichkeiten nachzudenken und Hypothesen anzustellen.
Aber vielleicht täuschte sie sich auch, und der Mann war womöglich ein von den Vorreitern geschickter Verfolger, der auf seiner Jagd nach ihr bis hierher gelangt war.
Aomames Herz begann zu rasen, und in ihren Ohren entstand ein hoher Pfeifton. Unwillkürlich tastete sie mit ihrer rechten Hand nach der Pistole in ihrem Hosenbund und umklammerte mit aller Kraft den harten Griff.
Doch bei näherem Hinsehen besaß der Mann nicht die energische und nachdrückliche Ausstrahlung für so etwas. Auch vermittelte er überhaupt keinen gewalttätigen Eindruck, wie er, so ganz allein oben auf der Rutschbahn hockend, den Kopf an das Geländer gelehnt, zu den beiden Monden hinaufsah. Offenbar gab er sich ausgedehnten Reflexionen hin. Von ihrem Balkonstuhl spähte Aomame durch den Spalt zwischen dem Metallgeländer und der Blende aus undurchsichtigem Plastik auf den Mann hinunter. Er hätte sie nicht sehen können, selbst wenn er in ihre Richtung geblickt hätte. Außerdem war der Mann so in seine Betrachtung des Himmels versunken, dass er wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen wäre, dass auch er beobachtet wurde.
Aomame entspannte sich und stieß die angehaltene Luft aus. Sie lockerte ihren Griff und nahm die Hand von der Pistole, ohne jedoch den Mann aus den Augen zu lassen. Aus ihrem Blickwinkel konnte sie nur sein Profil erkennen. Durch die hohe Laterne im Park war seine Gestalt hell beleuchtet. Der Mann war groß und breitschultrig. Sein dichtes Haar war kurz geschnitten, und er trug ein langärmliges T-Shirt, dessen Ärmel er bis zum Ellbogen hochgeschoben hatte. Er sah nicht besonders gut aus, hatte aber recht attraktive, markante Züge. Seine Kopfform war auch nicht schlecht. Etwas älter und mit weniger Haar wäre er genau ihr Typ gewesen.
Da wusste Aomame es plötzlich.
ES WAR TENGO .
Das kann nicht sein, dachte sie. Sie schüttelte mehrmals kurz und entschieden den Kopf. Es musste sich um eine unglaubliche Verwechslung handeln. Wie sollte es je zu so einem glücklichen Zusammentreffen kommen? Aomame konnte nicht mehr normal atmen. Ihr Organismus geriet völlig in Aufruhr. Denken und Handeln ließen sich nicht mehr koordinieren. Sie musste sich den Mann noch einmal genau ansehen, schaffte es aber aus irgendeinem Grund nicht, ihre Blickrichtung zu kontrollieren. Ihre Sehkraft schien plötzlich stark beeinträchtigt.
WAS SOLL ICH TUN ?
Sie erhob sich von ihrem Gartenstuhl und sah sich ratlos um. Ihr fiel das kleine Nikon-Fernglas ein, das in dem Sideboard im Wohnzimmer lag. Sie suchte es hervor, eilte damit auf den Balkon zurück und richtete es auf die Rutschbahn. Der junge Mann saß noch immer dort. Sogar in der gleichen Haltung. Schaute, ihr sein Profil zugewandt, zum Himmel. Mit zitternden Fingern stellte Aomame das Fernglas ein, um das Profil – konzentriert und mit angehaltenem Atem – näher in Augenschein zu nehmen. Es war Tengo . Zwanzig Jahre waren vergangen; dennoch hatte er sich seit seinem zehnten Lebensjahr nicht so sehr verändert. Er schien einfach dreißig geworden zu sein. Doch kindlich wirkte er auch nicht. Natürlich war er sehr gewachsen, sein Nacken war kräftig, und auch seine Gesichtszüge und ihr nachdenklicher Ausdruck waren eindeutig die eines Erwachsenen. Seine auf den Knien liegenden Hände waren groß und fest, und trotz allem war er noch der Gleiche wie vor zwanzig Jahren in dem Klassenzimmer in ihrer Grundschule. Sein robuster, starker Körper vermittelte Aomame eine natürliche Wärme und ein Gefühl von Sicherheit. Wie gern hätte sie ihr Gesicht an seiner Brust geborgen. Allein der Gedanke daran beglückte sie. Und auch der, dass er auf dem Spielplatz vor ihrem Haus oben auf der Rutsche saß, in den Himmel schaute und das sah, was sie sah. Die beiden Monde. Ja, sie sahen beide das Gleiche.
WAS SOLL ICH TUN ?
Aomame hatte nicht die geringste Ahnung. Sie legte das Fernglas in ihren Schoß und ballte mit aller Kraft die Fäuste. So fest, dass die Nägel sich in ihre Handflächen gruben und deutliche Male hinterließen. Ihre Fäuste zitterten.
WAS SOLL ICH TUN ?
Sie hörte ihr eigenes heftiges Keuchen. Inzwischen hatte sie das Gefühl, in zwei Hälften gespalten zu sein. Die eine Seite wollte glauben, dass es Tengo war, den sie dort sah. Die andere
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