2 - Wächter des Tages
Anton sich dafür verflucht, nicht auf die Idee gekommen zu sein, eine detaillierte Analyse der mit dem Auftauchen des Spiegels verbundenen Umstände vorzunehmen. Schließlich fanden sich in ihren Geheimarchiven vergleichbare Fälle: Ein Magier, der sich keiner Klassifikation zuordnen ließ, tauchte auf, seine Kraft nahm rasant zu, es kam zu einem entscheidenden Zusammenstoß, und dann verschwand er wieder. Alles hatte gepasst. Bis hin zum letzten Moment, in dem Witali Rohosa sich buchstäblich in Luft auflöste, sich dematerialisierte und in den Tiefen des Zwielichts verschwand, das ihn hervorgebracht hatte.
Doch Anton brauchte sich keine Vorwürfe zu machen, Garik und Semjon ebenfalls nicht. Für sie war der Spiegel eine der zahlreichen exotischen Erscheinungen, die sie bislang nur aus Vorlesungen und Archivmaterialien kannten. Warum aber hatten Geser oder Olga mit ihrer Arbeitserfahrung nicht sofort durchschaut, worum es sich dabei handelte? Schließlich hatten sie es bereits mit Spiegeln zu tun gehabt...
Alles stand schlecht. Alles ging schief. Als ob das Dunkel, erbost über die jüngsten Erfolge der Nachtwache, ihnen einen Schlag um den anderen zufügen wollte. Was ihm vortrefflich gelang, das musste man zugeben.
Anton schüttelte den Kopf und lehnte die zweite Tasse Kaffee ab, die Semjon ihm anbot. Sorgfältig reinigte er seine Pfeife, wobei er unwillkürlich zu Bär hinüberschielte.
Der reinigte ebenfalls seine Pfeife. Eine lange und schmale Pfeife mit einem kleinen Kopf, die früher Tigerjunges gehört hatte. Die Frau hatte sie hin und wieder geraucht, meist in der Gesellschaft ihrer Freunde. Jetzt, da es Tigerjunges nicht mehr gab, rauchte Bär abwechselnd seine eigene und ihre Pfeife. Vermutlich war das die einzige Gefühlsregung, die er nach dem Tod von Tigerjunges zeigte. Das sanfte Berühren der Pfeife ... und der starre Blick, als Witali Rohosa sich dematerialisierte. Ein Blick voll sehnsüchtigen Bedauerns. Bär hatte Rohosa nicht erwischt, seinen Rachedurst nicht stillen können...
Was auch für Alischer galt, den Lichten aus Usbekistan, dessen Vater vor einem Jahr von Alissa umgebracht worden war.
Auch Anton hatte noch eine Rechnung mit der Tagwache und ihrem Chef offen. Eine Rechnung, die natürlich nicht bezahlt werden würde. Der Große Vertrag band sowohl die Wächter des Tages als auch die der Nacht. Die Inquisition wachte über seine Einhaltung, und es gab nur einen Ausweg: vorzupreschen, den Feind zum Duell herauszufordern, so wie es beispielsweise Igor gemacht hatte. Aber mit welchem Ergebnis? Die Hexe war tot, dafür drohte dem Magier die Dematerialisie-rung, er musste die Entscheidung des Europabüros der Inquisition abwarten. Und es war nicht schwer zu erraten, wie die aussehen würde...
Anton erhob sich, nickte seinen Freunden zu und begab sich in den zweiten Stock, zum Chef.
Finster sah es in seiner Seele aus, auf die bevorstehenden Feiertage freute er sich überhaupt nicht, obwohl alle Menschen auf der Welt sie so ersehnten, als könne allein die Zahl 2000 etwas verändern. Aber was sollte daran eigentlich Besonderes sein?
Erst an der Tür zum Arbeitszimmer des Chefs packte Anton leichte Neugier.
Der magische' Schutzschild war sehr stark. Das Gebäude der Nachtwache war ohnehin gegen jede Beobachtung geschützt, die Arbeitszimmer der Mitarbeiter und die Konferenzräume darüber hinaus zusätzlich abgeschirmt. Heute hatte Geser jedoch noch etliche weitere Anstrengungen unternommen, um Vertraulichkeit zu gewährleisten: Die Luft im Korridor war stickig, unbeweglich und von Energie durchtränkt. Auch die unsichtbare Mauer, die irgendwo im Zwielicht verlief, zog sich nicht durch die ersten beiden Schichten, in die Anton gelangen konnte, sondern durch viel tiefere.
Er trat ins Büro und schloss die Tür fest hinter sich zu. In seinem Rücken spürte er eine leichte Bewegung, als sich der für einen Moment aufgebrochene Schutz wieder schloss.
»Setz dich, Anton«, sagte Geser. »Kaffe, Tee?«, fragte er liebenswürdig.
»Danke, Boris Ignatjewitsch«, erwiderte Anton, indem er Geser abermals bei seinem profanen Vor- und Vatersnamen nannte. »Ich habe gerade welchen getrunken.«
»Dann vielleicht ein Gläschen Bier?«, bot Geser völlig unerwartet an.
Anton unterdrückte mit Mühe den Wunsch, sich die Augen zu reiben oder besser: sich in den Arm zu kneifen. Geser waren die Freuden des Lebens nicht fremd. Er vergnügte sich mit den jungen Leuten in der Disco, flirtete mit dummen
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