2012 – Das Ende aller Zeiten
Schüssel liegt«, sagte sie.
»Nein, es gibt keine Schüssel. Es gibt keine Himmelsschale. Der Himmel besteht aus Wind bis ganz weit oben. Und tatsächlich bewegen wir uns auch gar nicht im Kreis. Wir bewegen uns mehr auf dem Umriss eines Gänseeis.«
Ich beugte mich wieder vor – und erneut war es unverschämt unhöflich, aber ich hoffte, wir waren darüber hinaus –, und schob mit meinem kräftigen Unterarm herumliegende Blütenblätter zur Seite, sodass ein gestutzter Halbmond aus heller, fein geworbener Binsenmatte sichtbar wurde. Ich steckte den Zeigefinger in den am kältesten aussehenden Bereich des Räucherbeckens, nahm etwas Ruß auf und malte damit einen Kreis auf die Matte.
»Dieses kleine Runde ist die Vierte Sonne«, sagte ich. »Der Ball, der zugleich Sonnenverberger und Sonnenbote ist, umrollt sie auf diesem größeren Rund.« Ich musste mir sechsmal Rußnachschub holen, ehe ich die Zeichnung vollendet hatte:
Natürlich fiel meine Skizze erheblich gröber aus, aber man konnte alles erkennen. »Das hier ist die nullte Ebene«, sagte ich und malte eine Auge /Auster-Hieroglyphe ganz links an den Rand. »Und das hier ist, wo Sonnenverberger am weitesten nach Weiß aufsteigt.« Ich malte eine Venus-als-Abendstern-Hieroglyphe auf elf Uhr an den großen Kreis und setzte einen einzelnen Punkt daneben.
Ich glaubte, Koh wollte etwas sagen, doch sie schwieg.
»Das ist Sonnenverbergers letzte Nacht«, sagte ich. Ich schrieb die Hieroglyphe links unter die erste. Daneben setzte ich zwei Punkte.
Koh starrte die Zeichnung an. Sie sagte nichts. Wie ich wohl schon irgendwo gesagt habe, ist es zwar richtig, dass der Maya-Kalender zu recht für seine Genauigkeit bekannt ist – er ist besser als der unkorrigierte Gregorianische –, aber das heliozentrische Weltbild hatten sie nicht eingeführt. Wie Koh es aufnahm, ließ mich allerdings vermuten, dass sie und die allerbesten Maya-Astronomen vielleicht doch eine Ahnung hatten, wie es sich wirklich verhielt.
»Und an diesem dritten Punkt ist der erste Morgen des Balls, wenn er Sonnenbote genannt wird«, sagte ich und bewegte ihn gegen den Uhrzeigersinn herum. »Dann ist hier der gelbste Morgen. Das hier istder letzte Morgen. Danach ist er für fünfzig Tage hinter der Sonne, und dann erscheint er wieder als Sonnenverberger. Zwölf mal zwanzig und vier Tage und einundneunzig mal zwanzig und fünf Schläge im Ganzen.« An die letzte Hieroglyphe schrieb ich die Zahl sechs. Die Konjunktionen ließ ich weg. Warum sie überhäufen?
Ich schwieg.
Das Schweigen dehnte sich.
Jetzt habe ich dich an der Angel, dachte ich. Auf eines konnte man sich bei diesen Typen immer verlassen: dass sie solide Grundlagen in Astronomie mit bloßem Auge besaßen. Und Koh war schließlich eine Sonnenaddiererin. Jeder Addierer suchte ständig nach kleinen Vorteilen gegenüber den anderen. Selbst wenn man dem Fortschritt skeptisch gegenüberstand – das heißt, dem, was wir toten weißen Männer Fortschritt nennen würden –, gab es dennoch jene planlose Art von Weiterentwicklung, die natürlich und ununterdrückbar aus dem Bedürfnis entstand, den anderen immer um eine Nasenlänge voraus zu sein. Sonnenaddierer sind Gauner und immer auf der Suche nach neuen Tricks. Und sie versuchen nicht nur, sagen wir, den ersten Regen ein bisschen genauer vorherzusagen als der Sonnenaddierer in der Nachbarstadt, sondern auch, mit anderen Addierern Geschäfte zu machte. Von Koh würde erwartet, dass sie den ganzen Kram den anderen Seidenweberinnen mitteilte, sodass die gesamte Gruppe die größere Genauigkeit als Trumpf in ihren Streitigkeit mit den Synoden nutzen konnte.
Endlich sprach Koh:
»Du sagst also, wenn 2-Pekari aus der Prozession tritt und sich auf der Weißen Straße höhlenwärts umwendet, dann ist das das gleiche.«
Damit meinte sie den Mars.
»Er wendet sich gar nicht um«, erwiderte ich. »Es sieht für uns nur so aus, weil der Boden unter uns sich auch bewegt. Es ist genauso wie bei Sonnenbote. Bei 2-Pekari dauert es nur länger, weil er weiter von der Sonne entfernt ist als wir.«
»Und Sonnenbote ist näher.«
»Sonnenbote ist näher.«
»Und du sagst, dass die Sonne größer sei als die nullte Ebene.«
»Über vierhundert mal vierhundert mal größer«, sagte ich. »Und wenn du zur Sonne gehen würdest – was du aber nicht kannst, aber sagen wir, du fliegst so schnell, wie du gehst –, dann würdest du sie nach neunhundert mal vierhundert B’ak’tunob noch nicht
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