2012 - Tag der Prophezeiung: Roman (German Edition)
Zócalo. Das Gelände zwischen den beiden großen Pyramiden wurde als eine Art Ballspielfeld betrachtet, hatte jedoch wenigstens die hundertfache Fläche eines echten Spielgrabens, war also viel zu groß, als dass Menschen darauf spielen konnten. Die Bälle hier waren Sonne, Mond und Planeten. Normalerweise lief das Spiel von allein, doch in diesem einen Ritual würden Koh und ich die Himmelskörper vorantreiben und mit Menschen markieren, wo sie vielleicht landeten.
Die Zwerge setzten Koh vier Armlängen vor mir ab, mir zugewandt – also nach Süden blickend –, und schlurften ins Heiligtum davon. Sie hielten sich geduckt, sodass die Menge sie nicht sehen konnte. Auf dem Forum räumten die Unsichtbaren das zentrale Quadrat, eine Fläche von gut drei Seillängen im Geviert. Sie war abgebimst und poliert und frisch in den Zonenfarben der fünf Richtungen bemalt worden, überlagert von einem ausgewachsenen Opferspielraster wie ein quadratisches Spinnennetz.
Endlich, dachte ich. Das Menschenspiel. Legen wir los.
Kohs Dienerinnen schnippten ihr den blaugrünen glotzäugigen Schlangenkieferhelm herunter und ersetzten ihn durch die Frisur und den Kopfputz einer Ozelot-Königin. Kohs alte Rolle als eine Art Nonne des Sternenrasslers gab sie dadurch weitgehend auf. Dennoch war es für sie der sicherste Weg gewesen, mich zu heiraten. Später, ehe ich ins kühle Grab sank, würde ich am popol na verkünden, dass Koh als Mund meines Uays herrschen sollte und schließlich als Regentin für ihren Sohn, vorausgesetzt, wir hätten einen oder könnten insgeheim einen adoptieren. In der Zwischenzeit würde Koh darauf hinarbeiten, die Ozelot- und Rassler-Fraktionen zu vereinigen, bis die Lage so stabil war, dass sie weiterziehen konnte. Und das wäre – bis zum zwölften B’ak’tun – mein Beitrag für die Nachwelt.
Wir grüßten einander, doch Koh sagte nichts. Eine Dienerin stellte einen bedeckten Spieltisch zwischen uns.
Auf dem Zócalo kehrten die Unsichtbaren das Spielraster und ölten es ein. Alligator-Wurzel, Kohs Ausrufer, trug eine dünne schwarze Maske, einer Dominomaske nicht unähnlich, die mit Wachs über den Augen befestigt war. Wenigstens hatte sie ihn nicht blenden lassen.
Die ersten neunundfünfzig Gehetzten – oder Gift-Orakel – traten heraus und stellten sich an ihre Plätze in der Mitte des Vierecks. Jeder hielt ein Stockpaar, und alle trugen sie hohe Null-Masken. Einer der Stöcke des Anführers war mit roten Bändern versehen und doppelt so hoch wie er selbst. Als Nächstes nahmen die achtundfünfzig maskierten Häscher ihre Plätze um die Gift-Orakel ein, sieben an jedem der acht Sternspitzen und zwei in Reserve außerhalb des Rasters. Jeder Häscher trug eine kleine Trommel an einem Stock. Die hundertsiebzehn Spieler waren aus den Vier- oder Fünf-Stein-Addierern vertrauenswürdiger abhängiger Sippen ausgewählt worden, was bedeutete, dass sie alle den Blutblitz spüren konnten und zu zählen vermochten, als hätten sie kleine Abakus-Registrierkassen im Kopf. Zugleich waren sie aber nicht in der Lage, ein Stadtspiel dieses Ausmaßes selbst zu leiten oder sich daran zu erinnern und das Wissen mitzunehmen. Mithilfe von Cleromantie hatten die Gehetzten aus ihren Reihen dreizehn Läufer ausgewählt, sie tätowiert und mit den Mustern des siderischen Skorpions besetzt, und sie dann mit Leber und Hirschblut ernährt, um sie stark zu machen. Der Anführer der Gehetzten gehörte zu ihnen. Sie waren die eigentlichen Ziele der Häscher; die übrigen Gehetzten dienten nur zur Ablenkung. In den letzten zehn Tagen hatten sie jede wache Minute geübt. Jeder von ihnen würde in gewisser Weise sein eigenes separates Opferspiel ausüben, und die Summe der Einzelspiele würde das Hauptspiel in seiner Gesamtheit erweitern.
Die Spiel-Schläger begannen ihre tönernen Wassertrommeln zu rühren, im Einklang mit dem Schlagrhythmus des allgemeinen Festes, aber mit größerem Nachdruck.
Los geht’s, dachte ich. Esgehtlosesgehtlosjetztgehtslos. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass das Menschenspiel tatsächlich stattfand. Es war, als ob … Ich weiß nicht, ob es mit irgendetwas zu vergleichen ist. Aber wenn es funktionierte, würde ich erfahren, was ich wissen musste, was wir alle wissen mussten. Und dann, mit diesem Wissen …
»Wisse, selbst im besten Fall sehe ich nur die Züge«, erinnerte mich Koh. »Auslegen musst du sie selbst.«
Ich antwortete, das wisse ich, und dankte ihr. Sie lächelte – he,
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