23 Uhr, York Avenue
folgende Manuskript wurde freundlicherweise von seinem Verfasser, dem Psychiater Dr. D. Rubicoff (Ordination: York Avenue 1370, Manhattan, New York) zur Veröffentlichung freigegeben. Es enthält den ersten Teil einer Rede, die Dr. Rubicoff in den Abendstunden des 13. Dezember 1968 anläßlich eines Treffens der New Yorker Gesellschaft für Psychopathologie hielt, einer zwanglosen Vereinigung von Psychiatern und Psychologen aus dem Räume New York, die in unregelmäßigen Abständen in einem der größeren Hotels von Manhattan zusammenkommen, um gemeinsam zu Abend zu essen und sich in Fachsimpelei zu ergehen; und immer hält eines der Mitglieder eine Ansprache, die anschließend zum Gegenstand einer ungezwungenen Diskussion gemacht wird.
An diesem 13. Dezember 1968 versammelte sich die Gesellschaft für Psychopathologie im Jagdsalon des Hotels »President Filmore«. Dr. Rubicoff war so gütig, dem Autor dieses Buches eine getippte Abschrift jener Ansprache zugehen zu lassen, deren erster Teil nun wörtlich wiedergegeben werden soll.
»Verehrte Frau Obmann - wenngleich ich diesen Titel lange Zeit für eine Art sexueller Anomalie gehalten habe!« [Gelächter.]
»Liebe Kollegen, meine Damen und Herren. Nach einem solchen Mahl wäre ein kräftiges Rülpsen wohl besser am Platz als eine Rede!« [Gelächter.] »Es sei mir an dieser Stelle gestattet, meiner Ansicht Ausdruck zu geben, daß wir unserem Unterhaltungskomitee, das einen solch lukullischen Schmaus in Szene zu setzen verstand, innigen Dank schulden.« [Applaus.]
»Und in der Tat bin ich mir Ihrer moralischen Unterstützung gewiß, wenn ich die Motive unseres lieben Komitees in Zweifel zu ziehen wage: Wollte man mich so sehr mästen, daß ich nicht mehr in der Lage sei, meine Rede zu halten? Oder wollte man Ihre Sinne betäuben, damit Sie meine folgenden Bemerkungen leichter ertragen können?« [Kurzes Gelächter.]
»Wie dem auch sei, die Reihe ist an mir, Ihnen mit dem geistigen Dessert nach einem so köstlichen leiblichen Mahl aufzuwarten, und ich werde mein Bestes tun. Wie manche von Ihnen zweifellos wissen, zählte ich kürzlich zu den Opfern eines Verbrechens, das in der Nacht vom 31. August zum 1. September dieses Jahres in der Stadt New York begangen wurde. Meine heutigen Ausführungen befassen sich mit jenem Verbrechen, mit dem Begriff des Verbrechens im allgemeinen und damit, was unser Berufsstand zur Linderung der Kriminalität in der Gesellschaft unserer Tage beitragen kann. Ich versichere Ihnen, daß meine Bemerkungen kurz sein werden … sehr kurz sogar!«
[Pause; der erwartete Applaus stellte sich nicht ein.]
»Die Gedankengänge, die ich Ihnen vorzutragen habe, sind reine Theorie. Ich habe auf diesem Gebiet keinerlei Forschung betrieben. Ich habe keine mit Heiligenschein versehenen Autoritäten zu Rate gezogen. Ich will Ihnen meine Gedanken lediglich darlegen, weil ich sie für schöpferische Einfälle halte - Auswirkungen meiner täglichen Erfahrung, wenn Sie so wollen -, die der nachfolgenden Diskussion sehr wohl als Thema dienen können. Unnötig zu sagen, daß Ihre Reaktion, meine sehr verehrten Damen und Herren, mich schon jetzt brennend interessiert.
Lassen Sie mich zuerst feststellen, daß es kaum neu ist, darauf hinzuweisen, daß es sexuelle Abirrungen sind, die jedem kriminellen Verhalten als Motive zugrunde liegen. Ich hingegen möchte Ihre Aufmerksamkeit heute auf eine viel innigere Wechselbeziehung zwischen Geschlechtsleben und Verbrechen lenken. Ich behaupte ganz ungeschminkt, daß das Verbrechen - in der modernen Gesellschaft - zu einem Ersatz für den Sex geworden ist.
Was ist Verbrechen? Was ist Sex? Was haben sie gemeinsam ? Ich will Ihnen sagen, daß beide einen gemeinsamen Charakterzug ihr eigen nennen, einen Haupt charakterzug zumal - nämlich den des Eindringens. Der Bankräuber erzwingt sich seinen Weg in ein Haus oder in eine Wohnung; der Bandit, der Ihnen hinter der nächsten Straßenecke einen Faustschlag versetzt, erzwingt sich seinen Weg in Ihre Brieftasche oder Geldbörse. Ist es seine eigentliche Absicht, in Ihren Körper einzudringen - in Ihren Intimbereich? Selbst die weit vielschichtigeren Verbrechen bergen dieses Moment des Eindringens. Der Bauernfänger dringt in den Reichtum seines Opfes ein, sei es ein Wandsafe oder ein Banksparkonto; der verbrecherische Buchhalter vergewaltigt die Firma, für die er arbeitet; der Staatsbeamte, der Unterschlagungen und Veruntreuungen begeht, dringt in den Körper unserer
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