257 - Die Spur der Schatten
Möglichkeit finden, den Fluss zu überqueren und ins Gebiet des ehemaligen Wales hinüber zu gehen. Das kann noch dauern, denn heute Morgen begann es wieder in Strömen zu regnen. Zum Glück haben wir Zuflucht in einer Kirchenruine gefunden. Wenn meine Orientierung mich nicht täuscht, müsste das Gebäude zum ehemaligen Stadtgebiet von Cheltenham gehören. Was für ein Glück, dass man in Europa einst so viele Kirchen gebaut hat; und dass man sie so stabil gebaut hat, dass viele von ihnen den Kometeneinschlag und die Jahrhunderte danach besser überstanden haben als die meisten Bauwerke des 20. und 21. Jahrhunderts.
Du und Pieroo, ihr seid gerade damit beschäftigt, eine Wand des Kirchenschiffs von Moos und Efeu zu befreien, denn du hast die Abbildung eines Gesichtes und betender Hände hinter dem Gestrüpp entdeckt. Nun willst du unbedingt das ganze Bild sehen. Pieroo hat sich nicht lange bitten lassen. Der gute Mann kann dir einfach nichts abschlagen. Dafür liebe ich ihn.
Wenn ich die betenden Hände sehe, muss ich an die Zeit vor dem Kometeneinschlag denken. Viele Kirchen waren voll damals, auch in Berlin. Schon während der Monate, in denen »Christopher-Floyd« sich der Erde näherte, geriet die Welt vollkommen aus den Fugen. Ich habe dir schon oft von diesen schlimmen Zeiten der Angst erzählt und werde es sicher noch viel zu oft tun.
Die NATO hatte damals beschlossen, »Christopher-Floyd« kurz vor dem erwarteten Einschlag von einer Raumstation aus mit Nuklearsprengköpfen zu beschießen, um ihn in Millionen kleine Teile zu zerbrechen - ein letzter verzweifelter Versuch, die Katastrophe noch abzuwenden. Unser Geschwader erhielt den Befehl, zu starten und den Raketenbeschuss von der Stratosphäre aus zu beobachten.
Hinter mir in meiner Maschine saß ein Astrophysiker namens David McKenzie. Wir starteten also unter dem Kommando deines Vaters… und wurden Zeugen eines vollkommenen Fehlschlags. Denn das war er, der Beschuss des Kometen: ein Fehlschlag. Und weißt du was, mein Kind? Wäre es kein Fehlschlag gewesen, wärst du nie geboren worden…
***
Ende Oktober 2521
Von der Küste weg marschierten die wilden Burschen nach Südosten. Durch ausgedehnte Wälder, über Hügelketten, an Flüssen entlang und durch Ruinenfelder hindurch führten sie Fletscher auf Pfaden, die sie vermutlich auch im Schlaf gefunden hätten, so sicher bewegten sie sich durch die unwegsame Landschaft. Waals nannten sie die Gegend, und der Major aus Leeds gewann allmählich den Eindruck, dass die drei in jedem Tal hier zu Hause waren, an jedem Flussufer, auf jeder Hügelkuppe.
Niemand behelligte sie, keine wilden Tiere, keine Mutanten, keine Barbarenstämme. Manchmal begann es in Strömen zu regnen. »Es pisst wie die Wisaau«, sagten die Waldwilden dann und führten Fletscher zielstrebig in irgendeinen Bergwerksstollen, irgendeine Höhle oder Ruine. Dort warteten sie das Ende des Platzregens ab. Und danach ging es weiter, immer nach Südosten, Richtung London.
Irgendwann erreichten sie den Flusslauf des Severn. Auf der Suche nach einer Furt oder einer erhaltenen Brücke folgten sie ihm nach Süden. Die drei Barbaren waren Nomaden, wie Fletscher inzwischen wusste. Sogar in den Wäldern Südwestenglands hatten sie schon gejagt. Sie schienen genau zu wissen, an welcher Stelle man den Severn überqueren konnte.
Nach und nach legte sich Fletschers Misstrauen, er hörte auf, an der Zuverlässigkeit der drei wilden Jäger zu zweifeln. Sie schienen die Traditionen ihres Stammes bitter ernst zu nehmen: Der Sieger ist der Herr, der Verlierer der Knecht. Ein albernes Gesetz in Fletschers Augen, doch ein Glücksfall für ihn. Das Schicksal meinte es gut mit ihm und schien noch einiges mit ihm vorzuhaben.
Zuverlässig arbeiteten die drei Wilden nicht nur als seine Scouts, sondern auch als Sammler, Jäger, Metzger, Köche und Nachtwächter. Sie fanden Pilze, sammelten die letzten Beeren des Jahres, erlegten Kleinwild und Wasservögel und bereiteten Speisen, die Fletscher in der Regel genießbar fand, häufig sogar lecker.
Vermutlich wäre es immer so weiter gegangen, ohne Zwischenfälle und böse Überraschungen, und der kriegslüsterne Bunkeroffizier aus der Community Leeds wäre nach ein paar Wochen an der Themse angekommen. Spätestens an der Westminster Bridge allerdings hätte er eine böse Überraschung erlebt - denn die Community dort war nach dem weltumfassenden EMP untergegangen und gnadenlose Lords und hungrige Taratzen
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