2727 – Am Gravo-Abgrund
ausgesehen haben mochte. Sie wusste, dass die biopositronisch-hyperinpotronische Großrechneranlage sich in den letzten hundert Jahren weiter ausgebreitet und verästelt hatte.
Je näher sie dem Zentrum der Kaverne kamen, desto schneller lief Pri. Sie wollte Klarheit. Obwohl sie kurz davorstand zu rennen, hielten die anderen Schritt.
Inzwischen hüllte sie die vertraute Musik NATHANS ein. Pri hörte kaum hin. So ungewöhnlich der traumartige Ort mit seinen fliegenden, faustgroßen Kugelrobotern, die wie Murmeln durch eine Landschaft aus architektonischen Versatzstücken schwebten, für Pri auch geblieben war, in diesem Augenblick dachte sie immerzu an die Parkbank und das Chaos, in das Luna City so unvermittelt gestürzt worden war.
YLA wartete bereits auf sie. Kemeny blieb wie erstarrt stehen.
Auch Pri hielt unvermittelt an. So sinnverwirrend NATHANS Inneres war, YLA stellte es in den Schatten. Wie ein Fanal leuchtete ihr Körper aus virtuellen Spiegelscherben in der Dunkelheit. Ihre Proportionen waren perfekt, das Gesicht ebenso kühl wie schön.
Das positronische Phantom sah Pri an, und doch konnte Pri diesem Blick nicht begegnen. Es war schier unmöglich. Ob Golo für diese Spielerei verantwortlich war? Ihr zweiter Vater hatte mit an der Entstehung von YLA gearbeitet. Er hatte Pri mit YLA eine künstliche Schwester geschenkt, die sie vor Gefahr warnen und ihr helfen sollte, NATHAN und damit die Onryonen zu überwachen. YLA agierte als NATHANS Hüterin und Scout.
»YLA freut sich, euch zu sehen.«
Der Satz war umso befremdlicher, da in YLAS Stimme keine Emotion lag und das Gesicht eine Maske blieb. Trotzdem strahlte Kemeny übers ganze Gesicht.
Pri fiel auf, dass das Rauschen, das YLAS Stimme überlagerte, schwächer klang als sonst.
»YLA, bitte, komm zur Sache. Du hast mich zu dir gerufen, ehe das Chaos ausbrach. Was ist los?«
YLA schenkte Pri ein roh wirkendes Lächeln. »Luna hat den ersten Zug gemacht.«
Shanda Sarmotte sah verwirrt aus. »Den ersten Zug? Ein Schachspiel?«
»Kein Spiel. Es bedeutet ...«
»Dass wir unterwegs sind!«, fiel Kemeny YLA ins Wort. Er hob die Arme, fuhr sich fahrig über den Falthelm. Seine weißen Brauen lagen wie ein geisterhafter Hauch über den geweiteten Augen. »Wir sind wirklich unterwegs. Eine Katastrophe.«
Pri spürte den Schwindel, der sich vor den Gravophänomenen gezeigt hatte. Aber dieses Mal erzeugte ihn ihre Angst. YLA hatte Pris schlimmste Befürchtung bestätigt. »Wohin, YLA? Wohin bringen uns die verdammten Onryonen? Was planen sie mit uns? Sind wir eine Waffe? Wird Luna nun Terra vernichten?«
Raphal trat näher an Pri und legte eine Hand auf das Schulterteil ihres SERUNS.
Zu fünft richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf YLA. Die Spannung in der Kaverne war Pri unerträglich.
»YLAS Berechnungen widersprechen einem Angriff auf Terra. YLA ist es gelungen, vertrauliche Informationen zu erhalten. Der Mond zieht seinen ersten Zug.« Der eigenständige Avatar NATHANS machte eine gewichtige Pause.
»Und was heißt das?«, fragte Shanda, die sich an Toufec drängte.
»Es ist die erste Transposition Lunas. Der Mond hat das Solsystem gestern verlassen.«
»Verlassen?«, echote Shanda. Sie schien diese Möglichkeit als Einzige erst durch YLAS Ankündigung in Betracht zu ziehen.
Seit ihrer Mission ins Mare Nubium wussten sie, dass es den Onryonen möglich war, den Mond wie mit einem Transmitter springen zu lassen. Doch erst in diesem Augenblick war es gewiss: Sie waren unterwegs.
Pri schluckte. »Luna ist tatsächlich bereits gestartet – unmerklich.«
Kemeny sah von ihnen allen noch am gefasstesten aus. In seiner Stimme lag die Neugierde, die nur ein Wissenschaftler in einer solchen Situation aufbringen konnte. »Wo befinden wir uns nach der Transition?«
»YLA weiß es nicht. Das Triebwerk ist kein echtes Transitionstriebwerk, sondern ein Transpositornetz. Jeder Zug benötigt eine unbestimmte Zeit. Von außerhalb empfängt NATHAN keinerlei Signale mehr.«
YLAS Scherbenkörper schwebte auf eine nahe Kugel zu, die gut zwei Meter im Durchmesser maß. Das positronische Phantom tippte mit der projizierten Hand dagegen, und ein Bild zeigte sich.
Spukhafte, spektakuläre Farbschleier wogten in einem Meer aus Farben. Ein zersprungener Regenbogen aus buntem Nebel spannte sich in Schlangenlinien. Nie gesehene Muster und stumme Explosionen aus Licht durchzogen die Komposition.
Der Anblick zog Pri in seinen Bann. Für einen Moment vergaß sie die
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