283 - Der Zorn der Königin
sachte, sodass Xij ihr Handeln kontrollieren konnte. Dann so vehement, dass ihr zeitweise gar nicht bewusst war, wer jetzt agierte: sie oder er.
Als sie nun Matts Gestalt davoneilen sah, wehrte sie sich nicht länger gegen die Präsenz des Portugiesen. Ihr Körpervolumen schien sich zu verdreifachen, Hände und Finger fühlten sich rau und klobig an. Der herbe Duft von Maccia umgab sie. Wieder heulte draußen der Wind. Die Zeltwände blähten sich und Astwerk kratzte über die dünne Plane. Xij lächelte. Aruulas Kräutertrank würde bald wirken und sie mit traumlosem Schlaf von aller Qual erlösen. Mit diesem Gedanken tauchte sie ein in das Leben von König Joseph I. von Portugal, auch Joseph der Reformator genannt.
Sein vollständiger Name lautete José Francisco António Inácio Norberto Agostinho de Braganca. Heute, im Jahr 1756, nannten ihn die meisten König José de Braganca. Ihm selbst war es im Augenblick jedoch ganz egal, wie er betitelt wurde. Er fühlte sich wie ausgespuckt. Weder Fisch noch Fleisch. Weder Mann noch Weib. Einst konnte er den Sonnenaufgang gar nicht erwarten, um seinem Tagwerk nachzugehen. Jetzt wollte er sich am liebsten nur noch unter seiner Bettdecke verkriechen. Angst und Grauen ließen ihn nachts nicht mehr schlafen. Selbst bei Tage quälten ihn die Bilder der Katastrophe, die vor drei Monaten Lissabon in Schutt und Asche gelegt hatte.
Sechs Minuten lang bebte und schwankte die Erde. Prachtbauten und Hütten fielen krachend zusammen. Brodelnde, dampfende Spalten öffneten sich in Straßen und Gassen, verschlangen Menschen und Häuser. Unzählige Feuer brachen aus. Überall das Geschrei der Fliehenden.
Diejenigen, die den ersten Ansturm der Naturgewalten überlebt hatten, flüchteten sich zum Hafen. Doch was sie dort erwartete, raubte ihnen den Atem, lähmte ihre Glieder: Das Meer hatte sich weit zurückgezogen und eine Wüstenei aus Schlamm und herumliegenden Warenkisten, Fässern und Truhen hinterlassen. Dazwischen ragten wie Totengebeine Schiffswracks aus dem Seeboden.
Doch was die Menschen dann entsetzt aufschreien ließ, war die über zwölf Klafter(etwa 22 Meter) hohe Wasserwand, die sich in der Ferne aufgetürmt hatte. Wie ein graues Heer aus Wellen und Gischt schien sie dort tosend und brausend zu lauern. So schrecklich, so grauenvoll, dass die Verzweifelten am Ufer sich in den Sand warfen und jammernd und schreiend um Gottes Hilfe flehten. Doch wie das Meer, schien sich auch Gott zurückgezogen zu haben.
Schon wogte die Flutwelle heran. Begrub die Betenden unter sich, brandete über den Hafen und schoss den Teco flussaufwärts in die Stadt. Zwar löschte sie dort die verheerenden Feuer, doch gleichzeitig barst jede verbliebene Mauer unter ihrem Ansturm. Kein Stein blieb auf dem anderen und alles Leben erlosch unter den Wassermassen.
Wie durch ein Wunder blieben das Rotlichtviertel und große Teile der Oberstadt verschont. Auch dem König und seiner Familie war das Schicksal gnädig. Zum Zeitpunkt des Bebens und des anschließenden Tsunamis besuchten sie in Santa Maria de Belém die Morgenmesse.
Ein sonniger Morgen war das gewesen, als sie am Allerheiligentag zu dem kleinen Vorort im Westen Lissabons aufgebrochen waren. Als José damals die kleine Kirche betrat, ahnte er nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass er sich längere Zeit in einem gemauerten Raum aufhalten würde.
Jetzt war nichts mehr so wie früher. Die Katastrophe hatte ihn und sein Leben verändert. Noch immer dröhnte das Grollen der Erde in seinen Ohren. Noch immer tat er keinen Schritt, ohne dass der Boden unter seinen Füßen zu schwanken schien. Noch immer hörte er das Rauschen, als die Ausläufer der Flutwelle sich in den Teco ergossen und den ruhigen Fluss in einen wutschäumenden Gischtriesen verwandelte. Der Anblick dessen, was die Naturgewalten übrig gelassen hatte, war für immer auf seine Netzhäute gebrannt. Ein Meer von verstümmelten Leichen. Ruinen, deren Trümmer nur noch aus kleinen und großen Steinbrocken bestanden.
Kaum etwas war noch übrig von der einst prachtvollen Stadt voller Leben und Lachen. Hunderttausende Einwohner waren Beben und Tsunami zum Opfer gefallen.
Seither litt der König unter unbändiger Angst vor engen Räumen. Aus diesem Grund hatte er eine Zeltstadt in den Hügeln von Ajuda errichten lassen. Hier lebte er jetzt. Nie mehr wollte er innerhalb fester vier Wände wohnen. Klaustrophobie nannte der Hofarzt die Krankheit. »Da hilft keine Medizin, Eure
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