2898 - Leichen brauchen kein Alibi
verwahrlosten Brownstone-Gebäude im zweiten Stockwerk.
Laut der billigen Visitenkarte, die neben ihrer Apartmenttür befestigt war, hieß Nancy Mitchell inzwischen Nancy L’Amour. Ich klopfte gegen die schäbige Holztür. Es dauerte nicht lange, bis uns geöffnet wurde.
Nancy Mitchell war eine schlanke Blondine von durchschnittlicher Attraktivität. Sie empfing uns in einem beinahe durchsichtigen rosa Unterrock. Auf ihrem grell geschminkten Gesicht erschien ein verführerisches Profi-Lächeln. Doch es verschwand schlagartig, als wir ihr unsere FBI-Marken zeigten. Nancy Mitchell dämmerte es offenbar, dass sie jetzt nicht zwei zahlungskräftige Kavaliere vor sich hatte.
»G-men!« Sie stieß das Wort hervor, als wäre es ein Fluch. »Was wollt ihr von mir, verflucht?«
»Ich bin Agent Jerry Cotton, das ist Agent Phil Decker. Wir sind vom FBI New York und würden gern mit Ihnen sprechen, Miss Mitchell.«
»Wenn es sein muss …«
Jake Reeds Bekannte machte aus ihrem Widerwillen keinen Hehl. Doch immerhin ließ sie uns in ihr chaotisches und unaufgeräumtes Apartment. Die wichtigsten Einrichtungsgegenstände waren offenbar das breite französische Bett und der Fernseher. Auf einem Beistelltischchen stand eine Glasschale mit vielen bunt verpackten Kondomen. Für mich war klar, dass Nancy Mitchell zumindest eine Gelegenheitsprostituierte war und damit gegen das Gesetz verstieß.
»Haben wir Sie bei Ihrem Schönheitsschlaf gestört?«, wollte Phil wissen. »Läuft die Modelkarriere nicht so gut, wenn Sie um diese Uhrzeit nicht auf dem Laufsteg, sondern im Bett sind?«
Nancy Mitchell alias Nancy L’Amour zuckte mit den Schultern, ließ sich in einen Sessel fallen und schlug die langen Beine übereinander.
»Sorgen Sie sich um meine Karriere, Agent Decker? Sind Sie deshalb gekommen?«
»Keineswegs«, erwiderte ich an Phils Stelle. »Wir wollen von Ihnen erfahren, wie Sie zu Jake Reed standen.«
Nancy Mitchell horchte auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen in ihrer Branche schien sie nicht unter dem Einfluss von Drogen zu stehen. Ich führte mir vor Augen, dass zahlreiche Anklagen gegen sie wegen Beweismangel eingestellt worden waren. Diese Blonde war nicht dumm. Und sie hatte genau zugehört, wie ihre Antwort bewies.
»Warum reden Sie in der Vergangenheitsform von Jake?«
»Weil er tot ist, Miss Reed.«
Während ich das sagte, ließ ich sie nicht aus den Augen. Nancy Mitchell wirkte gefasst, beinahe teilnahmslos. Dennoch schien Jake Reeds Tod eine Neuigkeit für sie zu sein. Oder kam mir das nur so vor?
»Jake ist tot? Wahrscheinlich hat jemand ihn umgelegt, sonst würde wohl das FBI nicht bei mir auf der Matte stehen, oder?«
»Ja, Jake Reed wurde erschossen«, bestätigte Phil. »Und wir fragen uns, in welchem Verhältnis Sie und Reed zueinander standen.«
Nancy Mitchell zuckte erneut mit den Schultern. Es schien ihre bevorzugte Geste zu sein.
»Jake war mein Freund, mein Liebhaber – wie immer Sie das ausdrücken wollen.«
Phil warf einen vielsagenden Blick auf die Glasschale neben dem Bett.
»Oder Ihr Stammkunde?«
Die Blonde schenkte meinem Freund ein zuckersüßes Lächeln. Ihre Stimmte triefte vor Ironie, als sie den Mund öffnete.
»Stammkunde? Ich habe keine Ahnung, was Sie damit andeuten wollen, Agent Decker. Unterstellen Sie mir etwa, ich würde einem illegalen Gewerbe nachgehen? Können Sie das beweisen?«
Bevor Phil antworten konnte, ergriff ich das Wort.
»Uns geht es um die Aufklärung des Mordes, Miss Mitchell. Ich muss Sie fragen, wo Sie Montagnacht zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens gewesen sind.«
»Ist Jake um diese Zeit umgelegt worden, Agent Cotton?«
Ich nickte knapp.
»Ich war hier, und zwar allein. So, wie es sich für eine anständige junge Frau gehört. Oder wollen Sie mir einen liederlichen Lebenswandel unterstellen?«
Ich ging auf ihren Sarkasmus nicht ein.
»Wir wollen niemandem etwas unterstellen, Miss Mitchell. Aber ich frage mich, warum Sie Ihren Freund nicht vermisst haben. Laut seinem Einzelgesprächsnachweis hat Jake Reed täglich mit Ihnen telefoniert, manchmal sogar mehrere Male. Haben Sie sich nicht um ihn gesorgt, als er nicht mehr anrief?«
»Nein, Agent Cotton. Jake und ich waren ja nicht miteinander verheiratet. Wir haben noch nicht einmal zusammen gewohnt, aber das werden Sie ja gewiss schon herausbekommen haben.«
»Nein, Sie waren nicht verheiratet«, bestätigte Phil. »Und auf mich machen Sie auch nicht den Eindruck einer
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