292 - Chimären
sie noch davon. Wann endlich verschwanden Alastar und die Alte und machten den Weg für sie frei?
Nach der Flucht aus der Krankenstation hatte Xij genau gewusst, wohin sie zu gehen hatte. Der Ruf in ihrem Kopf wies ihr den Weg. Warum nur hatte sie das Gefühl, dass sie selbst nach sich rief?
Dieses ganz und gar irrationale Empfinden machte sie fast verrückt. Ihr war aber klar, dass sie der Lockung unbedingt folgen musste, wenn sie endlich inneren Frieden finden wollte.
Doch schon die erste Schleuse, die in ihr gelobtes Land führte, hatte sich als unüberwindbares Hindernis herausgestellt. So war ihr nichts anderes übrig geblieben, als zu warten, bis jemand kam und das Tor öffnete.
Xij war zu allem entschlossen, bis hin zum Mord, um endlich ans Ziel zu kommen. Die Stunden, die sie in einem kleinen verlassenen Raum nahe der Schleuse zubrachte, vergingen noch zäher, als Baumharz tropfte, und einige Male war sie nahe daran gewesen, durchzudrehen.
Wie groß war ihr Erstaunen, als sich plötzlich Alastar gemeinsam mit einer alten Frau näherte. Für einen Moment fürchtete sie, der Chefexekutor wäre auf der Suche nach ihr, doch es war Zufall gewesen. Xij hatte sich gerade noch rechtzeitig hinter der Schaltsäule verstecken können, bereit, auch gegen das schwarz gekleidete Monster anzutreten, wenn es sein musste. Aber der Chefexekutor war ungewöhnlich aufgeregt und unaufmerksam gewesen, warum auch immer. So hatte sie ungesehen durch diese und eine zweite Schleuse huschen können.
Endlich verschwanden Alastar und die seltsame Alte hinter einer Stahltür. Es war nicht die, hinter der Xijs Ziel lag. Die junge Frau atmete auf und huschte weiter. Obwohl ihr Herzschlag überlaut in ihrem Kopf pochte, obwohl ihr Blut zu kochen schien, hatte sie genau beobachtet, was Alastar tat.
Als sie die Tür erreichte, die das letzte Hindernis vor der Erlösung darstellte, berührte sie die Felswand so, wie Alastar es bei der anderen Tür getan hatte, und wartete gespannt. Ihr Herz raste.
Nichts geschah. Fast hätte sie vor Enttäuschung geschrien, doch sie bezähmte sich, wenn auch nur mit größter Mühe.
Dann begann sie systematisch die Wand abzutasten. Schließlich fand sie die Stelle doch.
Xij wartete nicht ab, bis sich die Tür vollständig geöffnet hatte. Sie nutzte den ersten Spalt, um sich durchzudrücken und in den Raum dahinter zu stürmen.
Im nächsten Moment stand sie vor einer mächtigen Maschine.
Die Gedankensphäre !
Mit dieser Erinnerung brachen auch alle anderen wie eine alles überrollende Lawine über sie herein. Sie war Francesca! Sie sah die Mönche, die sie peinigten, so deutlich vor sich, als seien sie tatsächlich anwesend! Sie sah sich selbst gefesselt auf dem Sessel sitzen, die Elektroden auf dem Kopf…
Xij keuchte. Die Erinnerungen drohten sie niederzuwerfen, in ihrem Kopf drehte sich für einen Moment alles. Sie wusste später nicht, wie sie es geschafft hatte, die Kabel mit den Elektroden in die Hände zu bekommen, aber genau da waren sie plötzlich!
Xij/Francesca wusste noch genau, wo die Elektroden gesessen hatten. Niemals wieder würde sie das vergessen! Dorthin setzte sie sie jetzt wieder. Und schaltete die Gedankensphäre ein.
Im Zentrum der Maschine, die an einen Mahlstrom erinnerte, entstanden irritierende bunte Flecken, die sich mit dem Auge nicht fassen ließen. Sie entzogen sich jedem Blick. Ein starker Sog setzte ein, der an Xij/Francescas Geist zu zerren begann. Die Gedankensphäre wollte sich holen, was ihr damals vorenthalten worden war!
Xij/Francesca ließ es nicht zu.
Halt ein, Sphäre! Ich bin eine Reisende !
Sofort verschwand der fürchterliche Sog. Stattdessen bekam sie Kontakt. Es wurde hell und freundlich um sie her. Eine Szenerie öffnete sich vor ihr, die ihr Herz laut jubeln ließ.
Endlich, endlich bin ich heimgekehrt!
Als Francesca stand sie auf dem Markusplatz des mittelalterlichen Venedig. Händler, Bürger und Soldaten, Arme und Reiche und Tausende von Tauben bildeten ein buntes, lärmendes Gemisch. Es roch nach Seeluft, Algen, Schweiß, Dreck, halb verfaultem Fleisch und Tierdunst. Francesca bekam gar nicht genug davon, diese Gerüche einzuatmen, sich durch die Menge zu drücken, sich anrempeln und anfassen zu lassen. Wie magisch zog es sie zu einem bestimmten Palazzo hin.
Sie ging durch die prachtvoll verzierten Treppenhäuser hinauf in das Eckzimmer des zweiten Stocks. Mit jedem Schritt wurde der Ruf nun stärker und zwingender. Als Francesca die
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