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meinen Beinen ausdehnen. Ich muss mich dringend in eine Ecke hocken, ich hab das Gefühl, dass ich sonst umfalle. Jetzt sitze ich also im Bunker, denke ich, und zwar wirklich.
Jetzt verstehe ich, warum Dragan mir vor ein paar Wochen noch eingebläut hatte: Wenn du auf die Zentrale gerufen wirst, steck dir immer zwei Schachteln Zigaretten in die Hosentasche, nimm zwei Feuerzeuge mit, einen Stift und eine Liste mit deinen wichtigsten Telefonnummern. Es ist jederzeit möglich, dass irgendwas Furchtbares passiert, und dann möchtest du nicht nur in einem T-Shirt dastehen, ohne Kippen und ohne Feuer. Danach hatte ich mir auf einen großen Zettel meine wichtigsten Telefonnummern notiert und das Ding in der Metzgerei mit der Vakuummaschine verschweißt. Der Zettel ist bombensicher, der kann nicht nass werden, weder im Regen noch wenn einer Kaffee drüberkippt. Aber als ich losgegangen bin, habe ich weder den Zettel noch Zigaretten noch Feuer mitgenommen. Man darf im Anwaltszimmer nicht rauchen, und außerdem rechne ich grade auch überhaupt nicht damit, dass irgendwas Furchtbares passieren könnte. Gearscht.
Erst vor einer Woche hatte ich einen Abschuss auf meinem Gang miterlebt, der fand drei Zellen weiter statt, und dann vor zwei Tagen noch einen, der war nur eine Zelle weiter. Das läuft immer gleich ab. Du wirst auf die Zentrale gerufen und ahnst nichts Schlimmes, es kann immer mal sein, dass du wegen irgendwelcher Kleinigkeiten auf die Zentrale gerufen wirst, aber diesmal kommst du nicht wieder. Stattdessen kommt das Rollkommando. Das sind zwei Gefangene, die in der Kammer arbeiten. Sie laufen mit einem Bollerwagen auf und packen den kompletten Inhalt deiner Zelle in Kartons, sodass sie danach wieder so aussieht wie am Anfang. Es sind zwar auch noch zwei Beamte dabei, aber nur als Zeugen, die machen sich logischerweise die Hände nicht schmutzig. Ich sehe mich da noch im Gang stehen, auf die Schwelle meiner Zelle zeigen und die Typen mit dem Bollerwagen zum Spaß anpfeifen: »Ich hab das Gefühl, ihr lauft in meine Richtung, aber hier, Leute, hier ist die Grenze! Genau hier!«
Manchmal bin ich am Bunker vorbei, wenn sich rumgesprochen hatte, dass wieder jemand abgeschossen wurde, dann hab ich den Leuten durch das Bunkerfenster Glück gewünscht. Das ist ja das Fiese am Abschuss, das man sich gar nicht mehr von seinen Kollegen verabschieden kann. Natürlich ist es total verboten, mit denen im Bunker zu reden, die könnten dich ja bitten, dass du ihre Geschäftspartner im Knast für sie warnst oder so, aber das Fenster ist immer gekippt. Also gehst du vorbei, guckst geradeaus, guckst gar nicht zum Fenster hin und rufst: »Hey, alles Gute! Weißt du, wo sie dich hinbringen? Schreibst du mal?« Und der drinnen guckt auch nur unauffällig gradeaus und brüllt die Tischplatte an: »Danke, Mann! Keine Ahnung! Ich versuch’s.« Alles ohne Blickkontakt, sodass es für die Kameras so unverfänglich wie möglich wirkt.
Nach zehn Minuten raffe ich mich vom Boden auf, setz mich an den Edelstahltisch und gehe im Kopf durch, was passiert sein könnte. Mir fällt aber nichts Illegales ein, außer dem Sex. Irgendwas muss hinter meinem Rücken gelaufen sein, und es ist so heftig, dass die mir nicht erst was in die Akten eintragen, einen Verweis geben oder sonst irgendwas, sondern mich sofort abschießen. Im Bunker sitzt du nicht, wenn es noch was zu debattieren gibt. Die lassen dich hier nicht warten für irgendeinen Kleinscheiß.
Ich überlege wirklich, ob ich träume, aber es ist zu real.
Das Problem ist, dass ich mit den Beamten überhaupt nicht argumentieren kann. Du kriegst keinen Hinweis. Es ist nur klar: Irgendwas wird mit mir passieren, vielleicht heute, vielleicht morgen, aber ich kann überhaupt keinen Einfluss drauf nehmen. So muss sich ein Kriegsgefangener fühlen, der von irgendwelchen Leuten, deren Sprache er nicht versteht, in ein Zimmer gesperrt wird. Das ist der Gehirnfick sondergleichen.
Es gibt ja Leute, die gehen in den Knast und haben draußen noch jede Menge heikle Sachen am Laufen. Bei denen kann es jederzeit sein, dass ein Zeuge auspackt, oder einer zieht blank und macht ’n Lebensgeständnis. Diese Art von Gefangenen rechnet natürlich jeden Tag damit, abgeschossen zu werden. Die haben jeden Tag den psychischen Stress, die wissen, da kann noch so viel kommen. Aber bei mir kann doch eigentlich nichts mehr kommen. Was soll denn da noch kommen?
Am liebsten würde ich sofort die verdammte Notruftaste neben
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