34° Ost
nach so kurzer Bekanntschaft wußte sie, dass an seinem Schweigen nicht nur der monoton schwankende Gang seines Kamels schuld war. Aber ohne diese Intuition hätte sie ja wohl kaum acht Jahre lang das Abu-Mussa-Kommando führen können.
»Transportprobleme«, antwortete er.
»Inwiefern?«
Er nahm sein Keffijeh ab und kratzte sich im Nacken. Die schräg einfallende Sonne brannte wie Feuer, und der Wind schien aus einem fernen Backofen zu kommen. »Diese zwanzig Mann in Feiran, von denen du gesprochen hast. Sie haben keine Kamele.«
»Sie können gehen.«
Er schüttelte den Kopf. »Dazu haben wir keine Zeit. Sie können keine hundert Kilometer in vierundzwanzig Stunden zu Fuß bewältigen.«
»Du weißt, wann der Amerikaner kommt?«
»Ziemlich genau. Das Treffen ist für morgen 18 Uhr angesetzt.«
Den Stimmen ihrer Männer lauschend, ritt Leila Jamil eine Weile schweigend weiter. Dann zuckte sie die Achseln und meinte: »Wir werden noch Tiere finden.«
Leč unterdrückte seinen Ärger. Wie typisch arabisch das war, achselzuckend zu sagen: Allah wird dafür sorgen.
Er drehte sich im Sattel um und blickte zu den östlichen Bergen hinüber. Sein Blick glitt über steile Abhänge aus kahlem Fels und senkte sich auf das rötlich schimmernde Trümmergestein der Geröllhalden herab. Ein sattelförmiger Gipfel ragte über die anderen empor.
»Dschebel Katerina«, sagte Leila, »der heilige Berg.«
Leč nahm seine amerikanische Karte aus einer Kartentasche und suchte die Stelle. Das war der Berg Sinai, den die Moslems nach der christlichen Heiligen und Märtyrerin Katharina nannten, aber auch Dschebel Musa, wo Gott – was selbst Mohammed, der Prophet, zugab – dem Juden Moses erschienen war. Scharen von Christen hatten einst diese Wüste durchquert, auf Pilgerreisen zu den Reliquien der Märtyrerin, die, auf Geheiß von Kaiser Maxentius gerädert und enthauptet, auf wundersame Weise zum Berg Sinai gelangt waren.
»Vielleicht«, sagte Leč ironisch, »können wir deine zwanzig Mann auf die gleiche Weise befördern wie die heilige Katharina ihre Knochen.«
»Das ist nicht so unmöglich, wie du denkst«, antwortete Leila.
»Marxisten genießen nur selten den Vorzug, Wunder zu erleben.«
»Das Katharinenkloster liegt am Fuße des Berges, östlich.«
»Und?«
»Die Mönche speisen immer noch die Beduinen.«
»Ja, ja. Sie lassen Brot in einem Korb herab. Sehr mittelalterlich und pittoresk. Aber was hat das mit uns zu tun?«
»Die Beduinen hüten für die Mönche die Ziegen. Dabei sitzen sie auf ihren Kamelen. Es sind sehr große Ziegenherden, und sie grasen auf den Hängen westlich von Feiran, wo es auch Wasser gibt.«
Leč entblößte seine gelben Zähne zu einem Lächeln. »Ich habe dich unterschätzt, Leila.«
»In dieser Jahreszeit weiden die Herden des Klosters immer bei Feiran. Über Nacht stehen die Kamele in der Oase, und die Hirten verrichten ihre Arbeit zu Fuß.«
»Zwanzig Kamele?«
»Mehr.«
»Und diese Beduinen sind Christen?«
»Ihre Vorfahren haben sich schon vor langer Zeit vom Islam losgesagt.«
»Das wird dein Gewissen zweifellos entlasten, wenn es sich als nötig erweisen sollte, ein paar von ihnen umzulegen.«
Die Augen Leila Jamils waren zwei unergründliche schwarze Löcher oberhalb des Keffijeh. »Heimatlose Menschen haben kein Gewissen, Leč. Doch es wäre besser, wenn die, die wir töten müssen, nicht unseres Glaubens sind.«
Immer noch lächelnd, legte Leč sein Keffijeh wieder um. Gut. Keine Skrupel, keine Zimperlichkeit. Guerillas konnten sich den Luxus solcher Gefühle nicht leisten. Und er mußte ehrlich zugeben, dass die Abu Mussa die Elite – die Überlebenden – derer waren, die wieder und wieder und an so unwahrscheinlichen Orten wie München, Khartum, Paris und New York im Namen der guten Sache kaltblütig gemordet hatten.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Drei Uhr nachmittags. Jetzt flog der Amerikaner schon irgendwo über dem Mittelmeer, seinem Schicksal entgegen – wie der legendäre Kalif nach Samarkand. Vielleicht war doch etwas dran, an diesem Glauben der Araber an das Kismet. Die Vorstellung, alles sei vorherbestimmt, war seiner marxistischen Denkweise nicht fremd. Allahs Wille oder die Gebote der Geschichte – wo war der Unterschied? Jeder hatte sein Rendezvous mit dem Tod und eilte sein ganzes Leben, um pünktlich zur Stelle zu sein.
Im Gesellschaftsraum der Maschine ›Air Force Two‹ ließ die hitzige Debatte allmählich nach. Die Teilnehmer
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