4 Meister-Psychos
miserabel
aus«, sagte Vera. »Laß doch den Kram liegen. Komm mit hinaus an die frische
Luft!«
»Frische Luft«, wiederholte ich
wie ein Papagei.
Ich legte das Blatt in die
Mappe und stand auf. Plötzlich und ohne es zu wollen, nahm ich Veras Kopf
zwischen meine Hände und preßte meine Wange an ihr Gesicht. Sie rührte sich
nicht. Ich blieb so, hielt sie fest, bis sie sich sachte frei machte.
»Armer Stephan«, sagte sie
leise.
Ich schwenkte den Schirm herum
und zog das Stativ zur Mitte des Zimmers zurück. Dann schaltete ich den Apparat
ab. Die Zahlen blieben stehen. Das Wispern verstummte.
Ich sah den Papierstreifen. Ein
rotes, zackiges Gebirge war entstanden, hoch über dem Normalniveau, wie ein
zerklüfteter Fels, der drohend aus dem Meer ragt.
Vera mußte sterben.
Drei Monate später sah ich die
ersten Anzeichen der Krankheit. Vera wurde blaß und matt. Ihre frische Farbe
verschwand. Ihre Bewegungen verloren die alte Energie.
Einige Male hatte sie mich im
Labor besucht. Wenn sie kam, mußte ich den Zähler abstellen und die Messungen
unterbrechen, sonst wäre alles herausgekommen. Später wurde ich gleichgültiger.
So oder so würde die Wahrheit eines Tages offenbar werden.
Peters liebte nicht, daß Vera
ihn im Institut besuchte. Es sah ihm ähnlich. Er wollte nicht auf ein Mädchen festgelegt
werden vor den anderen. So blieb er ahnungslos. Sein Monitor hätte ihm die
Strahlung längst angezeigt. Und Veras Leiden bemerkte er nicht. Ich kann nicht
beschreiben, was ich in diesen drei Monaten ertragen habe.
Heute interessiert es niemanden
mehr.
An einem der ersten Julitage
ging ich mit Vera von den Kliniken zur Stadt hinunter.
Die Luft flimmerte vor Hitze.
Vera trug ein helles, leichtes Kleid. Ihre Haut war gebräunt, aber ihre Augen
lagen tief und waren ohne Feuer.
Ich fragte: »Fehlt dir etwas?«
Sie sah mich von der Seite an.
»Wie kommst du darauf?«
»Du bist so blaß — trotz der
Sonne.«
Ihr Blick richtete sich auf die
helle, heiße Straße.
»Ich kriege ein Kind«, sagte
sie.
Ich blieb unvermittelt stehen.
Damit hatte ich nicht gerechnet. »Ein Kind?«
»Ja. Komm weiter.«
Ich tat es. »Weiß er davon?«
fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und
lächelte.
»Du bist wieder mal der erste,
der es weiß. Aber sag nichts, ja?«
»Ich bin still. Wann willst du
es ihm sagen?«
»Bald.«
Eine Weile gingen wir
schweigend nebeneinander her.
»Nimmt es dich sehr mit?«
fragte ich dann.
Sie nickte.
»Ja. Dauernd ist mir schlecht.
Als hätte ich einen Kater, der nicht aufhört. Und ich fühle mich so schlapp.«
Das Kind wird mit ihr sterben,
dachte ich. Sie ist tot, bevor es zur Welt kommt. Ich konnte kein Wort mehr
herausbringen.
Wir erreichten ihre Wohnung.
»Sei mir nicht böse, daß ich
dich nicht mit hoch nehme«, sagte Vera. »Ich möchte mich hinlegen.«
»Natürlich«, antwortete ich.
»Übrigens: Vera...«
»Ja?«
»Bist du glücklich?«
Sie nickte, ohne mich
anzusehen. Dann öffnete sie die Tür. Sie war schon über die Schwelle getreten,
als sie sich noch einmal umdrehte. Ihr Gesicht war hilflos.
»Stephan«, sagte sie leise,
»was wird er sagen?«
Ich hielt die Tür auf. Wir
standen dicht voreinander.
»Was willst du hören?« fragte
ich.
»Die Wahrheit.«
Ich wollte ihr helfen. Ich
wollte sagen: Er wird froh sein, aber ich sagte: »Er wird dir raten, es
abtreiben zu lassen.«
Veras Körper schien
zusammenzufallen. Sie drehte sich um und ging. Ich ließ die Tür los.
XIII
Ich sah Vera nicht mehr, bevor
sie in die Klinik eingeliefert wurde. Aber ich wußte sofort, wann sie Peters
von ihrem Zustand erzählt hatte. Seine Laune schlafe sofort um. Seine
Selbstzufriedenheit schwand. Er wurde nervös, zerfahren, reizbar. Seine
ungerechten Nörgeleien, die er eine Zeitlang unterlassen hatte, begannen von
neuem. Ich kannte den Grund. Ich wußte, daß ich recht behalten hatte. Ein Kind
war das Unangenehmste, was einem Mann wie Peters passieren konnte. Ich sah die
Strafe unaufhaltsam auf mich zukommen. Ich selbst hatte Peters von seiner Sorge
befreit, wenn Vera tot war.
Er würde aufatmen und sein
altes Leben weiterführen, als wäre nichts geschehen. Ich würde für immer
unglücklich sein.
Eines Abends, als ich nicht
einschlafen konnte, erwog ich den Gedanken, Peters des Anschlages auf Vera zu
bezichtigen und ihn anzuzeigen. Er hatte einen Grund zum Mord. Ich nicht. Vera
bekam ein Kind von ihm. Er wollte sie nicht heiraten. Auf ihn würde der
Verdacht
Weitere Kostenlose Bücher