4 - Wächter der Ewigkeit
wollte. »Ich trete in die Manege und jongliere mit kleinen bunten Fischen. Können Sie sich das vorstellen? Die fliegen dann hoch zur Kuppel hinauf- und verschwinden. Nur wie ich das mache, das habe ich mir noch nicht überlegt …«
Der arme dumme Zauberkünstler. Um das zu bewerkstelligen, muss man ein Anderer sein. Und sei es auch ein nicht initiierter.
Denn selbst ohne Initiation, ohne den ersten Eintritt ins Zwielicht vermag ein Anderer weitaus mehr als ein einfacher Mensch. Mit Jegor verhielt sich alles noch komplizierter. In seiner Kindheit war er ins Zwielicht eingetreten. Er hatte es sogar bis in die zweite Schicht geschafft, wenn ihn dabei auch fremde Kraft genährt hatte, da seine eigenen Fähigkeiten minimal waren.
Doch zur endgültigen Initiation hatte er sich nicht durchgerungen. Er war geblieben, was er war: ein unbestimmter Anderer, der seine Fähigkeiten nicht bewusst kontrollieren konnte und sich weder dem Licht noch dem Dunkel zuwandte. Sein
Schicksalsbuch war umgeschrieben worden, er war in den Ausgangszustand zurückversetzt worden und hatte die Möglichkeit einer erneuten Wahl bekommen – von der er jedoch abgesehen hatte.
Denn er wollte ein normaler Mensch bleiben.
Jegor hätte selbst nicht sagen können, wie er seine Nummer hinbekam. Er war überzeugt, äußerst geschickt zu jonglieren, die Bälle unmerklich aus der einen Hand in die andre gleiten zu lassen, bevor er sie erneut in die Luft warf. Anschließend ersetzte er die Bälle ausgesprochen gewitzt durch ein spezielles Band, das der Bequemlichkeit halber an einigen Stellen beschwert war.
Doch eigentlich konnte so ein Trick nicht funktionieren.
Aber Jegor war sicher, die Nummer ohne jede Magie zu bewerkstelligen. Als wäre er ein normaler geschickter Mensch.
Die Zuschauer klatschten. Auf ihren Gesichtern stand lebhafte, unverfälschte Begeisterung geschrieben, wie man sie im Zirkus sonst wohl nur bei Kindern sieht. Die Welt war für sie einen Augenblick lang zauberhaft und erstaunlich gewesen.
Sie wussten nicht, dass sie tatsächlich so ist, unsere Welt …
Jegor verbeugte sich und ging schnellen Schrittes im Kreis herum – nicht um Geld einzusammeln, obwohl man ihm auch Scheine entgegenstreckte, sondern lediglich um den Zuschauern ins Gesicht zu blicken.
Er nährte sich! Ohne es zu wissen, nährte er sich von den Gefühlen der Zuschauer!
Rasch wollte ich aus der Menge verschwinden. Doch von hinten drängten Zuschauer gegen mich, um meine Beine hüpften Kinder herum, eine halb nackte Frau mit gepiercten Lippen atmete mir schwer ins Ohr. Ich schaffte es nicht. Jegor bemerkte mich. Und hielt inne.
Mir blieb nichts weiter übrig, als die Arme auszubreiten.
Eine Sekunde lang zögerte Jegor, dann flüsterte er seiner Kollegin mit dem Tablett etwas zu. Und schlängelte sich durch die Menge. Die Menschen traten beiseite, klopften ihm dabei jedoch anerkennend auf die Schultern und äußerten sich begeistert in den unterschiedlichsten Sprachen.
»Tut mir leid, aber ich bin zufällig hier vorbeigekommen«, entschuldigte ich mich. »Ich hätte nicht gedacht, dich hier zu sehen.«
Einen Moment starrte er mich an. »Ich glaub dir«, sagte er dann mit einem Nicken.
O ja, momentan stand ihm Kraft im Höchstmaß zur Verfügung. Eine Lüge hätte er intuitiv gespürt.
»Ich geh jetzt«, sagte ich. »Du bist gut, ich konnte mich gar nicht losreißen.«
»Warte, ich muss mir mal die Kehle anfeuchten.« Jegor schloss sich mir an. »Ich bin fix und fertig …«
Ein neugieriger Junge zupfte Jegor energisch am Ärmel. Freundlich blieb Jegor stehen und knöpfte seine Manschetten auf, um zu zeigen, dass er dort nichts versteckt hatte. Dann holte er aus der Luft eine leichte silbrige Kugel und überreichte sie dem ungläubigen Zuschauer. Der Kleine seufzte begeistert auf und rannte zu seinen in der Nähe stehenden Eltern.
»Du bist wirklich gut«, lobte ich ihn. »Trittst du auch ihn Moskau auf? Dann komme ich mit meiner Tochter in den Zirkus.«
»Nein, in Moskau nicht.« Jegor verzog das Gesicht. »Weißt du, wie schwer es bei uns im Zirkus für den Nachwuchs ist?«
»Ich kann es mir vorstellen.«
»Wenn du nicht aus einer Artistenfamilie kommst, wenn du nicht schon mit fünf Jahren durch die Manege gehüpft bist und nicht auf Beziehungen zurückgreifen kannst … Wenn man dir dann anbietet, im Ausland aufzutreten …« Jegor runzelte die Stirn. »Sei’s drum! Nächstes Jahr werde ich in einem französischen Zirkus auftreten, jetzt
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