434 Tage
und was mache ich? Ich bringe es fertig, zu duschen, Reizwäsche auszusuchen, mich in ein Kostüm zu werfen und loszufahren. Wie schaffe ich das? Wie schaffe ich es, Tobias noch einen Kuss zu geben und dann zu Julian zu fahren? Und während ich mich all das frage, gehe ich zielstrebig zur Rezeption und höre mich nach seiner Zimmernummer fragen. Und ich klinge wie eine andere Frau. Eine Fremde, die mir irgendwie doch vertraut ist.
So, als wäre ich zwei verschiedene Frauen. Eine liebt Tobias und hasst sich für jede Lüge und jede gestohlene Nacht mit Julian. Die, die gerade nach der Zimmernummer gefragt hat und in diesem Augenblick lächelnd einen Schlüssel entgegennimmt, will Julian. Und das Schlimmste ist, diese Frau will nicht nur mit ihm schlafen. Nur so kann ich es mir erklären, dass wir hier sind. Es ist nicht nur Sex. Es ist Liebe. Und bei dieser Erkenntnis spüre ich nicht nur meinen Dämon, ich spüre auch das Eichhörnchen. Und damit weiß ich, dass es stimmt.
Ich steige in den Aufzug. Und während ich auf die sechs drücke, schießt mir die Möglichkeit durch den Kopf, doch noch kehrt zu machen. Noch könnte ich umdrehen und zu Tobias gehen. Ich könnte mich ein einziges Mal selbst überraschen und stärker sein, als die Frau, die ich im Stillen verachte, weil sie für alles steht, was falsch ist. Sie ist die Betrügerin, sie ist die, die nur sich sieht und das was sie will. Sie lebt den Augenblick und kostet das Leben aus. Und sie kümmert sich nicht um die Konsequenzen. Sie kennt keine Reue und keine Gewissensbisse. Warum auch? Die überlässt sie dann schließlich mir.
Mit einem sanften Bling öffnen sich die Aufzugtüren. Mein Dämon sticht mich in die Seite, so als wollte er mir einen Ruck geben. Doch ich bewege mich nicht. Die Türen schließen sich wieder. Und weil ich nicht fähig bin, eine Entscheidung zu treffen, beschließe ich dreißig Sekunden zu warten. Wenn der Aufzug dann noch immer im sechsten Stockwerk steht, dann gehe ich zu Julian. Wenn er aber nach oben oder unten fährt, gehe ich nach Hause zu meinem Mann.
Ich schaue auf die Uhr. Zehn Sekunden sind bereits vergangen und ich stehe noch immer im sechsten Stock. Mein Dämon reibt sich bereits dreckig lachend die Hände. Weitere zehn Sekunden später ist noch immer nichts passiert. Noch vier Sekunden, noch drei. Und gerade, als ich anfange mir albern vorzukommen und meine Hand ausstrecke, um auf den Knopf mit den beiden Pfeilen zu drücken und auszusteigen, macht der Aufzug einen Ruck und fährt nach unten. Mein Dämon brüllt und das Eichhörnchen senkt traurig seinen kleinen Kopf, doch dieses Mal halte ich mich an mein Versprechen. Ich steige im Erdgeschoss aus, gebe den Schlüssel wieder ab und gehe in Richtung Ausgang.
…
Ich sitze im Auto und starre an die Wand des Parkhauses. Mein Dämon ist wütend. Er ist unbeschreiblich wütend. Sein elendes Gebrüll dröhnt in meinem Kopf. Es ist viertel nach acht. Ich denke an Julian, der in Zimmer 605 sitzt und sich fragt, wo ich bleibe. Und ich denke an Tobias, der vermutlich gerade fernsieht und darauf wartet, dass ich nach Hause komme. Von einem wichtigen Geschäftsessen. Mal wieder. Eigentlich wartet er immer auf mich.
Und plötzlich kommt es mir so vor, als würde ich Julian mit Tobias betrügen. Ich habe ihn noch nie versetzt, noch nie warten lassen. Er kam immer an erster Stelle. Vielleicht, weil ich wusste, dass Tobias warten würde und Julian nicht. Er ist nicht die Sorte Mann, die wartet. Und schon gar nicht auf mich. Es ist schon seltsam, aber in meinen Augen ist Julian der Typ, der innerhalb von einer Woche eine neue hätte. Eine Katja, die ihn anhimmelt und Sommersalate ohne Öl bestellt. Und genau deswegen habe ich ihn nie warten lassen. Ich hatte immer Angst, er würde mich ersetzen. Ich hatte immer Angst, er könnte gehen.
Ich greife nach dem Gurt und schnalle mich an. Mein Dämon realisiert, dass er diesen Kampf verloren hat. Es ist der erste seit Langem. Vielleicht ist es der erste jemals.
Als ich aus der Tiefgarage fahre, steigen mir Tränen in die Augen. Das war es also. Julian wird wissen, was das heute Abend zu bedeuten hat. Er hat einmal gesagt, dass es so kommen wird. Er wusste, dass ich eines Tages einfach nicht auftauchen würde. Und er hat recht gehabt. Es ist die Vernunft, die siegt. Sicher nicht nur, aber auch. Die Frau, die Tobias liebt, hat viel mehr zu verlieren. Den Ehemann, die Geborgenheit, das Zuhause, die Schwiegereltern, die Routine, die
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