47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
als er feststellte, dass der Tempel eine Ruine war. Durch die in diesem Gebiet häufig vorkommenden Erdbeben waren Risse in den Felsen darunter entstanden. Ein Erdrutsch hatte die Hälfte des Untergrunds, auf dem er gestanden hatte, in den Abgrund gerissen ... und die Hälfte des Tempels gleich mit.
Oishi hatte nicht verstanden, warum Fürst Asano diesen einsamen, verlassenen Fleck ausgewählt hatte, um dort zu beten und Trost zu suchen. Nur die Furchtlosigkeit seines Fürsten und das bedingungslose Vertrauen – oder war es Gehorsam? – seines Vaters hatten Oishi davon überzeugt, ihnen zu der Ruine zu folgen. Zerbrochenes Holz ragte an der Stelle ins Leere, an der einst das Bildnis von Amida Buddha mit unendlichem Mitleid auf all jene hinuntergeblickt hatte, die hierherkamen und Trost suchten.
Doch sobald er den knarrenden, seufzenden Tempel betreten hatte, sah Oishi überrascht, dass das klaffende Loch, wo dereinst die Statue gestanden hatte, das Tor in eine Welt aus grünen Hügeln und blauem Himmel geöffnet hatte. Der Blick war idyllischer und schöner als alles, was er je erblickt hatte – eine neue Welt, eingerahmt von den Ruinen der Vergangenheit.
Er hatte das Gefühl gehabt, einen Blick auf das geworfen zu haben, was jenseits von Heute und Morgen lag: eine Vision des Ortes, an dem eine Seele zwischen zwei Leben während ihres ständigen Wandlungsprozesses Ruhe fand, bis sie die Erleuchtung und somit die ewige Ruhe auf der obersten Ebene erreichte. Da erst hatte er wirklich verstanden, warum der Priester, der sie begleitete, gesagt hatte, dass der Sinn des Lebens nicht darin lag, glücklich zu werden, sondern weise ...
Eine einsame Gestalt tauchte aus den Schatten des verwitterten Tempeleingangs auf und trug ihre Sandalen in der Hand. Der Mann blieb auf der Steintreppe draußen stehen, zog die Sandalen an und begann den Abstieg hinunter zum Lager.
Ein Ronin, der dort in der Nacht arglos Schutz gesucht hatte?
Nein
, erkannte er und war wieder einmal verwundert über die unerwarteten Offenbarungen dieses Orts.
Es war Kai
. Das Halbblut ging mit gesenktem Kopf und sah niemanden an. Er schien gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, dass er nicht allein war, und ging dennoch auf die Stelle zu, an der sie sich versammelt hatten.
Hatte Kai einfach beschlossen, dort zu übernachten? Oder war er zum Gebet dort hingegangen, um seinen Geist nach allem, zu dem er seit dem Tag des Turniers zu Ehren des Shogun vor einem Jahr gezwungen worden war und was man ihm angetan hatte, zu reinigen? Hatte das Halbblut wirklich während ihres Ritts Gebete gesprochen ... wusste er eigentlich, was Gebete waren, oder kannte er die Bedeutung heiligen Bodens? Oishi schüttelte den Kopf. Etwas, das Bashō ihm einmal über Kai erzählt hatte, tauchte kurz am Rande seines Bewusstseins auf und verschwand wieder, bevor er den Gedanken festhalten konnte.
Er drehte sich zu seinen Männer um, deren Köpfe noch immer zum Gebet gesenkt waren. Er schwieg, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, da ihm bewusst war, dass sie Kais unerklärliches Verhalten für eine Entweihung des heiligen Bodens halten konnten.
»Ich bitte Euch um Verzeihung«, sagte er schließlich. Sie hoben ihre Köpfe und sahen ihn neugierig und verständnislos an.
Seine Handvoll Offiziere ... herrenloser Ronin ... noch immer loyaler Untergebener lauschte erwartungsvoll schweigend, und er sagte: »Ich habe Euch bis jetzt nichts gesagt, denn der Feind hat uns beobachtet und ich musste mir sicher sein. Doch jetzt ist die Zeit gekommen. Kiras Spione glauben, wir sind Bettler und Diebe geworden und stellen keine Bedrohung mehr dar.«
Die Männer warfen sich Blicke zu und ihre Neugier verwandelte sich in Überraschung und etwas Dunkleres, obwohl sie immer noch nicht genau wussten, worauf er eigentlich hinauswollte.
»Was ich vorschlage, wird mit dem Tod enden«, erklärte er geradeheraus. »Selbst, wenn wir erfolgreich sind, werden wir als Kriminelle gehängt werden, weil wir die Befehle des Shoguns missachtet haben.« Da der Shogun ihnen ausdrücklich verboten hatte, Rache an Kira zu üben, würden sie nicht einmal ihre Ehre durch
sepukku
wiederherstellen können.
Oishi fuhr mit seiner Ansprache fort und fasste die Gedanken in Worte, die ihn während des langen, schweren Ritts nach Dejima und zurück beschäftigt hatten. Er versuchte, allen Anwesenden das Gesamtbild deutlich zu machen, dem sie sich gegenübersahen.
Er hatte keinen Beweis, ob der Shogun an Kiras Unschuld
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