6. Die Rinucci Brüder: Neapel sehen und sich verlieben
einzumischen.
Aber die Tage vergingen, ohne dass sie das Thema berührte, und er atmete insgeheim erleichtert auf. Spätabends wanderten sie dann zusammen durch die Straßen, und er beschrieb ihr die Stadt bei Nacht. Das waren die glücklichsten Stunden. Manchmal standen sie lange am Meer, lauschten dem Schreien der Seevögel und den Geräuschen der anlegenden und auslaufenden Schiffe, ehe sie nach Hause zurückgingen.
Sie führten ein ruhiges Leben, und er spürte, dass Celia entspannter war.
„Warum biegen wir hier eigentlich immer links ab?“, fragte sie eines Abends. „Kämen wir auf der Straße, die rechts abzweigt, nicht auch nach Hause?“
„Es wäre ein Umweg“, improvisierte er.
„Das ist doch egal. Heute nehmen wir den anderen Weg“, entschied sie.
Sie gingen weiter, bis auf halbem Weg sein sorgsam gehütetes Geheimnis gelüftet wurde: Über ihnen rief ihn jemand beim Namen.
„Wer ist das?“, fragte Celia.
„Mein Bruder Ruggiero“, erwiderte er resigniert. „Er und Polly wohnen hier. Sie stehen am Fenster und haben uns entdeckt.“
„Sie wissen, dass du mir momentan hilfst, oder?“
„Das hat sich in meiner Familie bestimmt blitzschnell herumgesprochen. Bleib nicht stehen, wir gehen einfach weiter.“
„Die beiden haben uns doch gesehen. Es wäre unhöflich, nicht mit ihnen zu reden.“
„Celia, sag Francesco, er soll dich auf der Stelle zu uns in die Wohnung führen“, rief Ruggiero ihr zu. Lachend tat sie es.
„Na warte, das musst du mir büßen“, drohte Francesco, während sie die Treppe hinaufstiegen. Der belustigte Unterton in seiner Stimme war jedoch nicht zu überhören.
„Ihr seid uns aus dem Weg gegangen“, beschwerte sich Ruggiero, nachdem sich alle hingesetzt und Polly jeden mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee versorgt hatte.
„Offenbar habt ihr darauf gewartet, dass wir hier vorbeikommen“, stellte Francesco fest. „Okay, du hast uns dabei ertappt“, gab Ruggiero lachend zu.
Er und Polly waren gerade erst von ihren Besuchen bei Justin und Evie in England und bei Luke und Minnie in Rom zurückgekommen.
„Nach der völlig verrückten Party bei Luke und Minnie sind wir am nächsten Tag noch zu Franco und Lisa gefahren“, erzählte Polly. „Glücklicherweise sind die beiden wesentlich ruhiger. Noch einmal eine Nacht durchzufeiern, hätte ich sicher nicht geschafft.“
„Wie geht es Tante und Onkel?“, erkundigte sich Francesco.
Nur Celia mit ihrem überaus feinen Gespür für Zwischentöne glaubte den leicht veränderten Unterton in seiner Stimme zu hören.
„Gut“, antwortete Ruggiero. „Sie werden allmählich alt. Lisa hatte kürzlich Bronchitis, und Franco … Du kennst ihn ja.“
„Nicht wirklich“, entgegnete Francesco ruhig. „Ich habe ihn nur selten gesehen.“
Jetzt war Celia sich sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie schützte Kopfschmerzen vor, um sich rasch wieder verabschieden zu können.
Als er auf dem restlichen Nachhauseweg beharrlich schwieg, sprach sie ihn darauf an.
„Normalerweise bist du nicht so schweigsam. Hast du dich über irgendetwas geärgert?“
„Du bist nicht die Einzige, die Kopfschmerzen hat“, gab er gereizt zurück.
Diese Reaktion hatte sie nicht erwartet, auch nicht, dass er ihr sofort Gute Nacht sagte, nachdem sie die Wohnungstür hinter sich zugemacht hatten. Irgendetwas beschäftigte ihn, aber er wollte nicht darüber sprechen.
In ihrem früheren Londoner Leben hätte sie ihn in die Arme genommen und ihn liebevoll getröstet. Heute musste sie vorsichtig sein. Nachdenklich ging sie ins Bett.
Mitten in der Nacht wurde sie durch ein Geräusch geweckt. Sie richtete sich auf und lauschte. Und dann hörte sie es wieder. Es klang wie gedämpftes Murmeln und kam aus dem Gästezimmer. Sie stand auf, trat hinaus auf den Flur und blieb sekundenlang vor Francescos Zimmer stehen. Dann öffnete sie behutsam die Tür, schlüpfte in den Raum und setzte sich auf das Bett. Er lag auf dem Rücken und murmelte etwas vor sich hin. Erst verstand sie die Worte nicht, doch dann hörte sie es klar und deutlich: „Verschwinde! Verschwinde endlich!“
„Francesco!“ Sie schüttelte ihn, aber er wurde nicht wach. „Francesco!“, versuchte sie es noch einmal. Wieder vergeblich. Er warf sich hin und her, so als versuchte er, dem Albtraum, in dem er gefangen war, zu entfliehen.
Sanft streichelte sie seine Wangen, die sich feucht anfühlten. Was sollte sie machen? In dieser außergewöhnlichen
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