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60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken

Titel: 60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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er hatte an demselben gestanden. Wie leicht konnte er von dem Haus da drüben aus gesehen werden.
    Er trat rasch hinzu – ein unterdrückter Schrei, ein kurzes und vergebliches Kämpfen des schönen Mädchenkörpers gegen die herkulischen Kräfte des Riesen – dann lag sie da, geknebelt und gebunden, die angstvollen Augen auf ihn gerichtet. Er nickte ihr beruhigend zu und sagte halblaut, um nicht möglicherweise im Nebenzimmer gehört zu werden:
    „Keine Angst, Gnädige! Ich tue Ihnen nichts! Ich will mir nur einige Geschmeide von Ihnen leihen. Kennen Sie mich?“
    Sie schüttelte den Kopf. Dieses Mädchen mußte kräftige Nerven haben, da sie nicht vor Angst in Ohnmacht gefallen war.
    „Ich bin der Riese Bormann. Sie können das morgen aller Welt sagen. Ich bin auch da kürzlich bei einem Uhrmacher eingebrochen. Aber tun werde ich Ihnen nichts. Ah, der Schlüssel steckt!“
    Er öffnete das Tischchen und zog alles hervor, was sich darin befand. Sie konnte ihn natürlich nicht sehen, sie konnte sich auch nicht bewegen, aber das Klirren der goldenen Ketten und Ringe wurde plötzlich durch den Ruf unterbrochen:
    „Zurück, Bösewicht!“
    Wer war es, der diesen Ruf ausstieß? –
    Als Robert Bertram, ganz glücklich, im Besitz von fünfzig Talern zu sein, das Haus des Juden verlassen hatte, war es zunächst seine Absicht gewesen, nach Hause zu gehen, um die Seinen durch die frohe Botschaft von ihrem Herzeleid zu befreien, aber er dachte an den schuldigen Hauszins und an die Drohungen, welche der Vorsteher gestern ausgesprochen hatte. Daher beschloß er, lieber zuerst diesen aufzusuchen.
    Er traf ihn daheim, jedoch zum Ausgehen bereit, und grüßte ihn höflich. Herr Seidelmann erwiderte den Gruß kalt und von oben herab und sagte:
    „Kommen Sie endlich! Jedenfalls ist es nur Ihre Absicht, um Nachsicht zu bitten! Das ist aber umsonst!“
    „Das weiß ich!“ antwortete Robert ruhig.
    „Wie? Das wissen Sie? Und dennoch sind Sie da?“
    „Wie Sie sehen, Herr Seidelmann!“
    „So gehen Sie nur gleich wieder fort! Morgen werden Sie auf die Straße gesetzt! Ich hatte mir vorgenommen, es bereits heute zu tun.“
    „Sie werden doch die Güte haben, uns wohnen zu lassen!“
    „Sie irren sich sehr! Und in dem Ton, welchen Sie gebrauchen, trägt man übrigens keine Bitten vor!“
    „Soviel ich weiß, komme ich nicht um zu betteln, sondern um zu bezahlen!“
    Der fromme Mann fuhr erstaunt zurück.
    „Bezahlen – be – zah – len?“ fragte er gedehnt.
    „Wie Sie hören!“
    „Fast traue ich meinen Ohren nicht recht! Woher haben Sie denn das Geld?“
    „Darüber habe ich Ihnen keine Rechenschaft zu geben!“
    „Nicht? Ah! Mir, dem Armenversorger? Ich will doch hoffen, daß es auf ehrliche Weise in Ihre Hände gekommen ist! Das siebente Gebot lautet: Du sollst nicht stehlen! Und wenn ich –“
    „Herr!“ unterbrach ihn da Robert. „Was fällt Ihnen ein! Sagen Sie noch einmal ein solches Wort, und Sie sollen sehen, was ich tue!“
    Der Vorsteher zog sich hinter einen Tisch zurück, blickte sich ängstlich nach einer Verteidigungswaffe um und schrie:
    „Was wollen Sie tun? Mich vielleicht anfallen und berauben? Ich werde um Hilfe rufen und Sie wegen Hausfriedensbruch, Drohung und Nötigung verklagen lassen!“
    „Tun Sie das! Vorher aber nehmen Sie das Geld und fertigen mir darüber eine Quittung aus!“
    „Gut! Das will ich tun! Das ist meine Pflicht, meine schwere, mühevolle und undankbare Pflicht. Bei der Administration solcher Häuser erntet man nur Ärger und Gefahr des Leibes und des Lebens. Doch rechne ich dabei auf Gottes Lohn, welcher dem Gerechten nicht versagt bleiben wird.“
    Er kam hinter dem Tisch hervor, setzte sich an demselben nieder und schlug ein dickes Buch auf. Dann warf er einen forschenden Blick auf den Jüngling und fragte:
    „Sie wollen doch alles bezahlen?“
    „Alles!“
    „Können Sie das auch?“
    „Ja.“
    „Wissen Sie, wieviel Sie schuldig sind?“
    „Sehr genau.“
    „Ich zweifle daran!“
    „Sie haben den Hauszins für –“
    „Oh, oh!“ fiel der Administrator ein. „Den Hauszins bloß?“
    „Ja. Was sonst weiter?“
    „Acht Prozent Zinsen vom Verfalltage an.“
    „Ah!“ sagte Robert erstaunt.
    „Und die Quittungs- und Buchungsgebühr!“
    „Die Quitt – Was sind das für Gebühren?“
    „Und die Anwaltskosten!“
    „Herr Seidelmann, ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen!“
    „Das glaube ich Ihnen! Ja, das glaube ich Ihnen! Wer

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