600 Stunden aus Edwards Leben
kann.
Nun, da ich weiß, dass ich in Sicherheit bin, versuche ich, die Augen wieder zu schließen.
Aber es nützt nichts. Ich nehme meinen Stift und das Notizbuch, kritzele die Zeit hinein, und meine Daten sind vollständig.
Auf dem Weg durchs Wohnzimmer, der frühesten Schüssel Cornflakes meines Lebens entgegen, bleibe ich am Fenster stehen und ziehe den Vorhang zurück. Draußen auf der Clark Avenue sieht alles noch fast genauso aus wie vor ein paar Stunden. Nur die Straßenlaternen zerschneiden die Dunkelheit. Niemand scheint unterwegs zu sein, nicht um diese Uhrzeit. Ich drehe den Kopf nach rechts und sehe Donna Middletons Haus. Ich frage mich, ob sie schlafen kann. Ich frage mich, ob sie Angst hat. Ich würde nicht sagen, dass sie vorhin Angst hatte, als ich mit ihr sprach – sie war aufgewühlt, ja, aber ihre Stimme klang fest, und in ihrem Blick lag etwas, das ich Entschlossenheit nennen würde. Es besteht natürlich keine Möglichkeit, diese Dinge empirisch zu überprüfen, aber das war meine persönliche Wahrnehmung. Ich bevorzuge Tatsachen, aber manchmal ist die persönliche Wahrnehmung alles, woran man sich halten kann.
Manchmal höre ich die Leute so was sagen wie »Ich weiß, wie er tickt« und frage mich, wie jemand so etwas wissen kann. Die Funktionsweise eines Menschen ist sehr mysteriös. Natürlich wissen Ärzte, wie der Körper funktioniert, und können ihn manchmal reparieren, wenn er nicht richtig arbeitet. Aber die Funktionsweise des Körpers ist es nicht, was die Leute meinen, wenn sie solche Sachen sagen. Sie meinen die Absichten eines Menschen oder seinen Charakter oder dass er gute Dinge tut – oder, bei jemandem wie Mike vielleicht, dass er das Gegenteil davon tut.
Ich verstehe nicht, wie man so etwas wissen kann, so wie man das Datum der Unabhängigkeitserklärung kennt (4. Juli 1776) oder weiß, dass der Gepard das schnellste Landsäugetier der Welt ist. Solche Dinge können gemessen und überprüft werden. Aber nicht, wie ein Mensch tickt. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Donna ein guter und starker Mensch ist, egal, wie unüberprüfbar dies auch sein mag.
Ich habe Mitgefühl mit Donna Middleton. Es muss schwer für sie sein. Bestimmt ist es schwer, einen Jungen großzuziehen, selbst einen so guten Jungen wie Kyle. Sie ist damit ganz allein, wobei sie offenbar auch etwas richtig macht. Ich schätze, dass Kyle heute vonseinen Großeltern aus Laurel zurückkehrt. Ich hoffe, er ist seiner Mutter noch lange Zeit ein guter Junge.
Ich denke nicht, dass Donna Middleton so allein sein will, wie sie es ist. Sonst wäre sie wohl nicht mit all den Mikes und Troys und Donalds zusammen gewesen, oder? Ich denke, es muss sehr schwer und traurig sein, etwas zu wollen und es nicht zu bekommen, egal, wie sehr man es versucht. Sie hat mit Mike zusammengelebt, und er hat versucht, sie zu erwürgen.
Ich habe Mitgefühl mit Donna Middleton. Aber ich habe kein Mitleid. Das ist ein feiner Unterschied, denke ich, aber es fühlt sich richtig an. Ich denke nicht, dass Donna Middleton es gut fände, wenn ich Mitleid mit ihr hätte. Ich weiß nicht, wie sie tickt, aber ich bin zuversichtlich. Diese Zuversicht muss ausreichen, bis Tatsachen vorliegen.
Um 4:38 Uhr am 293. Tag des Jahres (weil es ein Schaltjahr ist) sitze ich, Cornflakes kauend, vor dem Computer und logge mich bei
Montana Personal Connect
ein.
Posteingang (1).
Ich klicke auf den Link.
Hallo Edward!
Viiiieeeelen, vielen Dank das du meine Fragen beantwortet hast. Deine Fragen sind auch toll. Hier sind meine Antworten:
Die Anzahl weiß ich nicht so genau. Ein paar. Onlinedating ist schwierig. Aber was soll mann machen? In Broadview werd ich wohl kaum jemand kennenlern. Ha ha.
Ich mag den Sommer. Ab an den See, Boot fahren, braun werden. LOL. Magst du den See?
Was ist
Polizeibericht?
Eigentlich alles. Ich mag klassischen Rock und Countrymusik. Ich LIEBE Garth Brooks.
Ich fahre nicht oft im Urlaub. Das letzte Mal bin ich nach
Colorado gefahrn, zum Mountain-Biking. Was ist mit dir? Was meinst du Edward, hast du vielleicht Lust dass wir uns treffen? Sag Bescheid.
Bye,
Joy
Da ist so vieles falsch an dieser Nachricht, dass ich kaum weiß, wo ich anfangen soll. Aber dann ist da diese Frage. Willst du mich treffen? Ich bin schockiert, weil ich erkenne, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt, 4:44 Uhr am 19. Oktober, dem 293. Tag des Jahres (weil es ein Schaltjahr ist), nie daran gedacht habe, dass die Teilnahme an einer
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