600 Stunden aus Edwards Leben
treffen.
In Erwartung Ihres Besuchs verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen,
Jay L. Lamb
»Das ist nicht gut«, sage ich.
»Darf ich mal sehen?«
Ich gebe Donna den Brief, und sie liest ihn schnell durch.
»Das ist ja kurios«, sagt sie. »Ihr Vater nimmt einen Anwalt, um mit Ihnen zu sprechen?«
»Manchmal.«
»Warum nennt der Anwalt ihn Ihren Förderer?«
»Ich schätze, das ist so ein Anwaltsausdruck, den er benutzen muss.«
»Warum kann Ihr Vater nicht einfach anrufen oder vorbeikommen?«
Ich zucke mit den Schultern. Das wäre nett. Aber das wird wohl nie geschehen. Ich schätze, dass sollte ich nicht sagen. Ich weiß nicht, was irgendwann geschehen wird, da diese Dinge noch nicht geschehen
sind
, und bis dahin ist alles nur Vermutung. Ich bevorzuge Tatsachen. Und Tatsache ist, dass mein Vater noch nie einfach so vorbeigekommen ist.
»Worum geht es?«
»Ich weiß es nicht. Das könnte alles Mögliche sein.«
»Er wirkte ganz nett, als wir … na ja, an dem Tag im Krankenhaus.«
»So kann er sein, wenn er will.«
»Werden Sie hingehen?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich muss.«
Donna macht sich zum Gehen fertig. Sie zieht ihren Regenmantel wieder an – draußen regnet es immer noch stark – und dreht sich zu mir um.
»Geht es Ihnen gut, Edward?«
»Ja.«
»Es hat mir Spaß gemacht, hier mit Ihnen die Zeit zu verbringen.«
»Mir auch.«
Sie lächelt mich an.
»Edward, darf ich Sie etwas fragen?«
»Ja.«
»Wäre es in Ordnung, wenn ich Ihnen einen Kuss auf die Wange gebe?«
Das hat mich noch nie jemand gefragt.
»Okay«, sage ich.
Sie legt ihre Hände auf meine Schultern, geht auf Zehenspitzen und drückt behutsam ihre Lippen auf meine linke Wange. Sie riecht gut. Ich schließe die Augen.
Als sie fertig ist, lässt sie mich wieder los.
»Danke, Edward.«
Sie öffnet die Tür, geht hindurch und schließt sie wieder.
Um 22:00 Uhr setze ich mich auf mein Sofa und sehe
Polizeibericht
. Die heutige Folge ist die achte der ersten Staffel in Farbe, wurde am 9. März 1967 das erste Mal ausgestrahlt und ist eine meiner Lieblingsfolgen. Sie heißt »Raub mit Methode«.
Darin ermitteln Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon in einer Reihe von bewaffneten Raubüberfällen auf eine Bonbonladenkette in Los Angeles. Eine Zeit lang scheinen die Überfälle einem bestimmten Muster zu folgen, aber dann nehmen sich der oder die Räuber – Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon sind nicht sicher, wie viele es sind – einen Laden vor, der schon einmal ausgeraubt wurde. Durch laufende Ermittlungen wird der Fall gelöst, und zwei flüchtige Männer werden festgenommen. Wie sich herausstellt, hat einer der beiden eine Waffe gefunden, die dann beide benutzten. Die Bonbonläden haben sie überfallen, wenn sie Bargeld für Alkohol brauchten. Abgesehen von der Waffe, sind die zwei eigentlich ganz friedliebende Männer, die sich angefreundet haben, weil keiner von ihnen lesen kann.
Sie haben schwere Verbrechen begangen, aber Sergeant Joe Friday und Officer Bill Gannon haben trotzdem Mitgefühl mit den Männern. Ich denke, in dieser Folge geht es nicht nur um das Aufdecken von Verbrechen, sondern auch um Freundschaft.
Freundschaft ist, wie ich feststelle, eine gute Sache.
Der sechste grüne Aktenordner mit den Beschwerdebriefen an meinen Vater bekommt Zuwachs.
Lieber Vater,
ich war sehr enttäuscht, als ich heute per Einschreiben den Brief Deines Anwalts Jay L. Lamb erhielt. Es war ein dunkler Moment an einem zuvor so guten Tag, an dem ich einige Durchbrüche und Erkenntnisse erlebt hatte.
Ich muss mich weiterhin fragen, ob Du und ich jemals einen ähnlichen Durchbruch erleben werden. Ich bin geneigt, in so vielen Fällen an Deine Vernunft und Erfahrung zu appellieren. Ich frage mich, ob Du jemals allein mit mir reden wirst oder einfach vorbeikommst, um ein Root Beer mit mir zu trinken, anstatt Deinen Anwalt Briefe an mich schreiben zu lassen.
Doch solche Überlegungen sind nichts anderes als Vermutungen. Nichts davon setzt sich mit Tatsachen auseinander.
Hier ist also eine Tatsache: Ich werde weiterhin hoffen, dass wir uns eines Tages besser verstehen.
Es grüßt Dich Dein Sohn
Edward
MITTWOCH, 29. OKTOBER
Ich erwache schlagartig um 7:40 Uhr. Die Unterarme auf der Matratze, die Ellbogen angewinkelt, sitze ich halb aufrecht. Ich kann mich nur noch vage an meinen Traum erinnern: Mein Vater geht vor mir eine Straße entlang, die ich nicht kenne. Er geht mit
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