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66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab

66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab

Titel: 66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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hinnen ruft. Je älter man wird, desto mehr sinkt die Erd mit all ihrem Jammer in das Nichts zusammen. Man kommt dem Himmel näher und hört bereits die lieben Englein die Zimbeln und die Harfen stimmen. Willst mir einen Gefallen tun, so geh jetzt mit zum Kirchhof, wo draußen deine Eltern liegen. Da wollen wir beten, und dann wird dir dein armes, junges Herz ruhig werden, so wie das meinige auch ruhig geworden ist durch das Gebet und in der Arbeit und Sorg des Lebens. Willst mit, Leni?“
    „Ja, komm, lieber Pat'!“
    Sie gab ihm die Hand, und so gingen sie durch das Dorf nach dem Kirchhof, in dessen Mitte die Kirche stand. Die Tür war offen.
    „Horch!“ sagte der Sepp. „Der Kantor probiert.“
    Es waren soeben die getragenen Töne des Chorals zu vernehmen:
    „Steig nieder, Gott, vom Himmelsthrone,
Und schenk mir Deines Friedens Ruh.
Mich drückt des Schmerzes Dornenkrone;
Mein einz'ger Trost, o Herr, bist Du.“
    „Kennst das Lied?“ fragte der Sepp. „Das paßt für dich und auch für mich. Wollen wir einmal eintreten und uns hinsetzen. Wann ich die Orgel höre, so ist es mir stets, als ob der Herrgott herniederlange, um mir Balsam in das alte Herz zu träufeln. Den brauchst auch du jetzund.“
    Er führte sie hinein. Sie setzten sich auf eine der gleich voran stehenden Bänke und lauschten.
    Der Kantor war ein guter Organist. Er verstand, mit den Registern umzugehen. Er spielte eine Melodie nach der andern, nicht bloß Kirchenlieder, sondern auch andere. Zuletzt ging er zu dem ergreifenden Gebet über:
    „Herr, ich trete im Gebete
Vor Dein heilig Angesicht.
Laß Dir sagen meine Klagen;
Höre, was mein Flehen spricht.
Meines Lebens kurze Stunden
Neigen sich zum Abendrot;
Alles Hoffen ist verschwunden,
Und mein Sein sinkt in den Tod.
Darum trete im Gebete
Ich jetzt vor Dein Angesicht.
Laß Dir sagen meine Klagen;
Höre, was mein Flehen spricht!“
    Diese Melodie wirkt unwiderstehlich auf jedes empfängliche Gemüt. Leni saß da, mit gefalteten Händen, und in lauter Tränentropfen löste sich der Schmerz von ihrem Herzen. Auch der Wurzelsepp fuhr sich fleißig mit der Hand nach den Augen.
    Beide hatten gar nicht bemerkt, daß sie nicht mehr allein seien, sondern daß hinter ihnen einer stand, der sie teilnehmend beobachtete. Als dann der letzte Ton verklungen war, legte sich eine Hand auf Lenis Achsel.
    „Kommt mit mir! Ich habe mit euch zu sprechen.“
    Sie drehten sich um.
    „O Himmel! Der König!“ sagte der Sepp.
    „Erschrickst du vor mir?“
    „Nein, Majestät. Mein Gewissen ist gut, wenn auch grad jetzt uns die Herzen schwer sind.“
    „So geht mit mir! Vielleicht gelingt es mir, sie euch zu erleichtern.“

ZWEITES KAPITEL
    Gebrochene Liebe
    Der Krickel-Anton hatte, seit er so glücklich gewesen war, den Kuß Lenis auf seinen Lippen zu fühlen, wirklich eine solche innere Leichtigkeit empfunden, als ob er nun fliegen könne. Er war ein berühmter Bergsteiger, hatte tausendmal zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod gehangen und dem Verderben kühn in das krasse Angesicht geschaut. Ein Wagnis wie das, da über den Grat zu gelangen, hatte er freilich noch nicht unternommen; aber er sagte sich, was eine Mondsüchtige leiste, könne auch er vollbringen, und so hatte er in seiner Verwegenheit Leni zugerufen:
    „Ich kann fliegen; weißt's ja!“
    Übrigens gab es keinen Ausweg für ihn. Widerstand wollte er nicht leisten, um die Strafe nicht zu erhöhen; ohne ihn kam er aber nicht durch, und da er sich auch nicht ergreifen lassen wollte, so mußte er eben über die schmale, scharfe Felsenkante hinüber.
    Er wußte zur Genüge, daß es darauf ankam, keinen Fehltritt zu tun und das Gleichgewicht zu erhalten. Seinen Alpenstock hatte er zurücklassen müssen, und darum bückte er sich, hart an der Kante angekommen, nieder und hob zwei schwere Steine auf, mit denen er, in jeder Hand einen, balancieren konnte.
    So betrat er den mehr als gefährlichen Grat. Über sich den Vollmond, welcher ihn hell beleuchtete, unter den Füßen den scharfen Felsen, blickte er nur auf diesen letzteren und hütete sich, einen Blick rechts und links hinunter in die gähnende Tiefe zu tun.
    Es ging besser, als er gedacht hatte. Verlor er ja das Gleichgewicht, so konnte er sich niedersinken lassen, um sich auf den Felsengrat zu legen. Nur mußte er sich hüten, schwindelig zu werden. In diesem Fall war er unbedingt verloren. Übrigens beruhigte ihn das Bewußtsein, daß er niemals auch nur die geringste Anwandlung

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