66095: Thriller (German Edition)
fahren.
»Wie sollen wir in einer Höhe von vierzehn Stockwerken praktisch frei schwebend das Seil wechseln?«, wollte Lyons wissen.
»Äußerst vorsichtig«, beschied ihm Tom.
»Zum Teufel nochmal«, murrte Kelly.
Tom küsste Cricket auf die Wange. »Und jetzt zeig, was du kannst«, mahnte er. »Gib der Höhle keine Chance.«
Cricket sah ihren Vater an. Sein Dreitagebart war grau meliert. Trotz der Müdigkeit in seinen Augen strahlte er noch so viel Stärke aus, dass sie lächelte und sagte: »Das mach ich doch nie, Dad.«
Er nickte, kitzelte sie unterm Kinn, ließ sich auf die Knie nieder und befestigte sein Rack am Seil. Dann ließ er sich vorsichtig über die schroffe Felskante ab. »Du wirst nicht sehen können, wenn ich 50 Meter unter dir Halt mache, mein Schatz, also lass deine Hand am Seil, bis du spürst, dass ich vom Seil gehe, dann schick den Nächsten.«
Bevor Cricket antworten konnte, war ihr Vater verschwunden. Sie hörte ein schwirrendes Geräusch, das das Stöhnen des Windes und das ferne Brausen des Wasserfalls überlagerte. Sie legte sich auf den Bauch, spähte über den Rand und schaute nach unten. Das Seil zitterte im Lichtkegel von Toms Stirnlampe. Das runde Loch, das sich unter ihrem Vater auftat, schien sich in diesem Licht in Schwindel erregende konzentrische Kreise aufzulösen, die sich in einem Fluchtpunkt tief unten trafen. Sekunden später war von ihm nur noch ein Lichtfunken zu sehen, der sich schließlich im Dunkel verlor. Zum ersten Mal war Cricket allein mit den Männern. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie.
»Zeig uns nochmal, wie du das Seil durchfädelst«, forderte Gregor.
Cricket wollte die Hand nicht von dem Nylonseil nehmen, an dem ihr Vater in den Schacht fuhr, aber sie zwang sich aufzustehen, drehte sich um und griff nach einem Sicherungsseil an ihrem Sitzgurt, um zu demonstrieren, wie man das Seil durch die drei Bremsstege des Abseil-Racks führt. Sie tat es rasch und hoffte, dass wenigstens einer der Geiselnehmer die knifflige Lektion nicht ganz mitbekam und einen tödlichen Fehler machte. Aus dem Augenwinkel sah Cricket, dass die Spannung des Seils nachließ.
»Sie sind der Nächste«, sagte sie zu Lyons.
Seltsamerweise schien Lyons mit der Handhabung des Abseilgeräts vertraut zu sein, jeder Handgriff saß. Auch er verschwand über den Rand des Schachts. Dann folgte Gregor. Cricket blieb mit Kelly zurück. »Sie sind dran«, sagte sie.
»Damen haben Vortritt«, erwiderte Kelly und fuchtelte mit dem Elektroschock-Sender. »Ich will nicht riskieren, dass du uns abhaust.«
»Ich würde meinen Vater nie im Stich lassen«, sagte sie.
»Egal.«
Cricket gab sich keine Mühe, ihren Hass auf Kelly zu verbergen, als sie sich anseilte. Dann kämpfte sie ihre Angst nieder und ließ sich über den Rand herunter; seit sie ein kleines Mädchen war, kannte sie solche Abseilmanöver, aber nie hatte sie einen so Furcht einflößenden Schacht gesehen wie die Dante-Röhren. Ruckweise ließ sie sich hinunter. Je tiefer sie abfuhr, umso lauter wurde der Wasserfall im Parallelschacht, der schließlich wie eine Kesselpauke dröhnte. Bald war sie in einen Nieselregen gehüllt, der das Seil glitschig machte. Immer wieder wurde sie von Windböen erfasst, die sie an die Wand zu drücken drohten.
Endlich hatte sie das rot gefärbte Ende des Seils erreicht. Cricket bremste und sicherte ihr Rack. Sie warf einen Blick in den Schacht, der sich unter ihr auftat. Hinter sich, ungefähr 25 Meter unterhalb, sah sie den zerklüfteten Boden des Gangs, der die beiden senkrechten Röhren zu einem schiefen H verband.
»Gut gemacht«, hörte sie ihren Vater sagen.
Cricket drehte sich am Seil um und sah, dass er etwa acht Meter von ihr entfernt unweit der Decke des horizontalen Gangs an der Wand hing, der hier auf den westlichen Wall der ersten senkrechten Röhre stieß. Er war mit einer Reepschnur an einem Karabiner gesichert, der in der Felswand verankert war. Seine Stiefel fanden Halt in den Schlaufen einer Bandleiter, die ebenfalls in die Wand gedübelt war. Hinter ihm verlief ein Gespinst miteinander verbundener Seile horizontal über die Wand des Verbindungsgangs, der nach Westen führte. An den Punkten, an denen das Seil in der Wand verankert war, hingen jeweils ein Karabiner und eine Bandleiter. Lyons und Gregor hatten sich in diesem Spinnennetz bereits ein gutes Stück vorangearbeitet und strebten auf eine Formation zu, die an verwitterte Türme aus rötlichem Sandstein erinnerte, die
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