9 SCIENCE FICTION-STORIES
verstand nicht, warum sie so kindliche Methoden wählte, um mich zu ärgern. »Warum nicht in die Schlucht?« fragte ich böse. »Sie wird austrocknen, wenn du den Bach umleitest. Du wärst berühmt als die einzige Frau der Welt, deren Heu in einer Schlucht gelagert wird.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Das ist es! Du bist ein kluges Mädchen.«
»Und was geschieht, wenn es dort ist?«
»Oh, vermutlich wird es dort bleiben.«
»Vermutlich?» schrie ich. Endlich hatte ich sie erwischt! »Weißt du es denn nicht?«
»Ich weiß nur die Dinge, die während der nächsten sechs Monate geschehen werden – bis zum dritten Juni, Schlag Mitternacht. Über die Dinge, die danach geschehen, kann ich keinerlei Voraussagen treffen.«
»Das heißt, du willst es nicht?«
»Ich kann nicht. Mein Zurückziehen ins Privatleben geschieht nicht willkürlich.«
Ich sah sie ungläubig an. »Ich verstehe nicht. Du meinst – deine Fähigkeit – sie wird dich verlassen – so?« Ich schnippte mit den Fingern.
»Genau.«
»Aber kannst du das nicht ändern? Kann dein Psychiater nicht etwas dagegen tun?«
»Niemand kann etwas für mich tun, selbst wenn ich es wollte. Aber ich will gar nicht erfahren, was nach dem dritten Juni geschieht.«
Ich studierte beunruhigt ihre Gesichtszüge.
In diesem Augenblick schlug die Uhr – als hätte sie es so geplant. Es klang, als wollte sie mich an unsere stillschweigende Übereinkunft erinnern, nicht näher über ihre seltsame Begabung nachzuforschen.
Die Antwort würde ich in sechs Monaten erhalten. Im Augenblick ließ ich den Dingen ihren Lauf.
Ein Epilog zu unserer Unterhaltung an jenem Tag:
Ein paar Monate später, als ich schon wieder in der Schule in Zürich war, schrieb mir eine Freundin, daß erstens der Bach in ein anderes Bett umgeleitet worden war, zweitens die leere Schlucht unter unserem Balkon ausgetrocknet und drei Meter hoch mit Heu gefüllt worden war, drittens das Heu mit einer elektronischen Warnanlage versehen sei, die klingelte, sobald sich jemand dem Heustock näherte, viertens das Gestrüpp entfernt worden war und an seiner Stelle ein kleines Landefeld stand, und daß fünftens auf dem Landefeld ein kleiner Lazaretthubschrauber stünde, komplett mit Pilot und Arzt.
»In manchen Fällen«, schrieb meine Freundin, »kann Senilität schon verhältnismäßig früh auftreten. Es wäre vielleicht besser, wenn du heimkommst.«
Mir gefiel es in der Schule. Ich wollte nicht nach Hause. Und außerdem, wenn Mutter schon den Verstand verlor, konnte ich es auch nicht ändern. Ich hatte keine Lust, meine Ferienpläne für eine Italienreise aufzugeben.
Einen Monat später, es war Anfang Mai, schrieb meine Freundin wieder.
Offenbar war eines Nachts der Alarmmechanismus im Heustock losgegangen. Mutter und die Diener waren hinausgeeilt und hatten einen einäugigen Mann mit blutendem Gesicht gefunden, der mühsam über das Kiesufer der Schlucht kletterte. In einer Hand hielt er eine alte Pistole. Den Berichten zufolge hatte ihn Mutter in den Hubschrauber gepackt und in ein New Yorker Krankenhaus bringen lassen, wo er immer noch war. Er sollte am sechsten Mai entlassen werden. Am nächsten Tag also, wenn es stimmte.
Dann erfuhr ich noch, daß Mutter zwei Schlafzimmer auf Skyridge hatte neu herrichten lassen. Ich kannte die Räume. Sie lagen nebeneinander.
Noch bevor ich den Brief zu Ende gelesen hatte, wußte ich, daß mit Mutters Verstand alles in Ordnung war. Daß immer alles in Ordnung gewesen war. Diese Hexe hatte alles vorhergesehen.
Aber was das Wichtigste daran war und was allen außer Mutter und mir entging, war die Tatsache, daß sie sich nun endgültig verliebt hatte.
Das war ernst.
So ließ ich den Rest des Semesters und die Italienreise
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