9 SCIENCE FICTION-STORIES
Minute des Tages.
Virginia und ich kauften die erste französische Zeitung, die seit dem Fall der allerältesten Epoche erschien. Wir waren entzückt von den Nachrichten, ja selbst von den Anzeigen. Manchmal fiel es uns schwer, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Zum Beispiel war es nicht einfach, sich über Speisen zu unterhalten, von denen nur noch die Namen existierten. Aber die Homunkuli und Maschinen, die unermüdlich in der tiefsten Vergangenheit herumwühlten, brachten genug Neuheiten auf den Markt, um jedermanns Herz mit Hoffnung zu füllen.
Wir wußten, daß das alles nur Vorspiegelung falscher Tatsachen war, aber unser Gefühl wollte es nicht wahrhaben. Wir wußten, daß die Epidemien abgeschaltet wurden, wenn die statistisch errechnete Menschenmenge gestorben war. Und wenn die Unfallziffer zu hoch anstieg, würde sie wieder abfallen, ohne daß wir wußten, wie. Wir wußten, daß über uns allen die Instrumentalität wachte. Wir hatten Vertrauen zu Lord Jestocost und Lady Alice More und hofften, sie würden uns als Freunde, nicht aber als Opfer eines Spiels behandeln.
Nehmen wir Virginia als Beispiel. Früher hatte sie Menerima geheißen, ein Name, in dem ihr Geburtsdatum verschlüsselt war. Sie war klein und hatte einen Hang zur Pummeligkeit. Um ihren Kopf ringelten sich dichte braune Locken. Und ihre Augen waren von einem so herrlich tiefen Braun, daß sich die Sonnenstrahlen darin fingen und die Iris golden aufblitzen ließen. Ich hatte sie früher schon gekannt, aber nie war sie mir so wie jetzt erschienen. Gesehen hatte ich sie oft, doch nie mit dem Herzen. Das geschah erst, als ich sie vor dem Krankenhaus traf, das mich in einen Franzosen verwandelt hatte.
Ich freute mich, eine alte Bekannte zu treffen und wollte sie in der Normalsprache anreden, aber die Worte waren irgendwie verklemmt. Und sie selbst war nicht mehr Menerima, sondern eine Schönheit des Altertums – eigenartig und fremd. Jemand, der aus dem Schatzkästlein der Vergangenheit zu uns heraufgestiegen war. So konnte ich nur stammeln:
»Wer bist du?« Und ich sagte es in Altfranzösisch.
Sie antwortete in der gleichen Sprache. »Je m’appelle Virginie.«
Sie ansehen und mich in sie verlieben war eins. In ihr war etwas Starkes, Wildes, gemildert von der weichen Jugend ihres mädchenhaften Körpers. Es war, als ob das Schicksal durch die ruhigen, braunen Augen zu mir sprach. Durch Augen, die mich sicher und doch fragend ansahen, mich und die neue Welt, die vor uns lag.
»Darf ich?« sagte ich und bot ihr den Arm, wie ich es in den Stunden der Hypnopädie gelernt hatte. Sie nahm meinen Arm, und wir überquerten die Straße vor dem Krankenhaus.
Ich summte eine Melodie vor mich hin, die mir zusammen mit der altfranzösischen Sprache in den Sinn gekommen war.
Sie zupfte mich leicht am Ärmel und sah lächelnd zu mir auf. »Was ist das?« fragte sie. »Oder weißt du es nicht?«
Die Worte kamen einfach über meine Lippen, und ich sang ihr das Lied leise vor.
Sie war niemals die Frau meiner Träume,
Durch Zufall traf sich unser Blick.
Ihr Französisch trieb mich auf die Bäume,
Denn sie hatte es von Martinique.
Sie war nicht reich, sie war nicht schick.
Aber sie hatte einen Blick,
Der riß mich hin …
Plötzlich wußte ich nicht mehr weiter. »Den Rest habe ich anscheinend vergessen. Das Lied heißt ›Macouba‹ und hat irgend etwas mit einer wundervollen Insel zu tun, die die alten Franzosen Martinique nannten.«
»Ich weiß, wo sie liegt«, sagte sie aufgeregt. Sie hatte die gleichen Erinnerungen erhalten wie ich. »Man kann sie von Earthport aus sehen.«
Das war eine plötzliche Rückkehr in die Welt, in der wir aufgewachsen waren. Earthport stand auf einem einzigen Pfeiler, zwölf
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