999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
gerade einmal fünfzehn Jahre alten Jüngling erwischten, einem Pagen des Kardinals, würde dem Gefangenen noch weitere harte Strafen einbringen. Obwohl die Unzucht mit Knaben, die kaum den Stimmbruch erreicht hatten, ein weit verbreitetes Laster war, war sie erst kürzlich in die Liste der schlimmsten Verbrechen in die Papstbulle Summis Desiderantes aufgenommen worden. Und aufgrund des Ortes, an dem es geschehen war, und des Bekanntheitsgrades des Straftäters wollte er es diesmal ganz genau nehmen: Als rechter Arm der Kirche konnte Fränzchen diejenigen, welche die Kunst des Hinternküssens praktizierten, ohne Prozess verhaften, auspeitschen und sogar töten lassen, wenn sie nur Widerstand leisteten. So stand es geschrieben.
Als Fränzchen auf der Piazza del Fico eintraf, ging die Sonne bereits unter. Seine Reiterhorde bahnte ihm einen Weg durch die neugierige Menge hindurch, indem sie hier und da gut platzierte Tritte verteilte, um die Aufdringlichsten der Gaffer zur Räson zu bringen.
Girolamo Benivieni kniete zitternd vor dem Sohn des Papstes und flehte um Gnade und Barmherzigkeit. Als er aus dem Palast kam, mit Eisen an den Händen und von den Wächtern umringt, wurde er von der Menge mit Lehmbrocken beworfen. Sein feiner Umhang war kurz darauf dunkel vor Schmutz, was Benivieni aber nicht zu bemerken schien. Mechanisch murmelte er Gebete, und in Gedanken sah er sich bereits in den Verliesen des Annona-Kerkers.
Fränzchen hingegen entfernte sich zufrieden – vielleicht war die Jagd doch nicht ganz erfolglos gewesen.
Florenz
Mittwoch, 5.Oktober 1938
Giovanni Volpe stand vor Wilhelm Zugel wie ein kleiner Junge, der von seinem bösen Onkel beim Bonbonklauen erwischt worden war. Von draußen klatschte der Regen rhythmisch an die Fensterscheiben des schäbigen Hotels in der Via dell’Agnolo. Die alte Wandbespannung war abgewetzt, ließ den einstigen Glanz jedoch noch erahnen. Zugel hatte das Hotel ausgewählt, weil es ein sicherer, vom Regime kontrollierter Ort war; die Wände hatten nur für autorisierte Lauscher Ohren.
Der Deutsche hatte Giovanni den Rücken zugewandt und schaute aus dem Fenster. Im Raum stand der beißende Geruch einer Mehari , der in Italienisch-Libyen hergestellten Zigaretten.
»Die Zeit ist um, Volpe«, raunzte Zugel – die Anrede ›Herr‹ hatte er schon seit einiger Zeit aus seinem Wortschatz gestrichen. »Die Geduld des Reiches und auch meine ist am Ende. Ihre lächerlichen Versuche der letzten Wochen, an das Buch heranzukommen, haben zu nichts geführt. Im Namen unseres gemeinsamen Freundes stelle ich Ihnen hiermit ein Ultimatum: Entweder Sie erledigen Ihren Auftrag wie vereinbart und fristgerecht, oder man wird Ihren Kadaver früher oder später aus dem Arno fischen. Habe ich mich unmissverständlich ausgedrückt?«
Volpe nickte nachdenklich. In den letzten Tagen hatte er alles Mögliche versucht, um an das Buch heranzukommen – mit dem Ergebnis, dass sein Lehrer zum ersten Mal misstrauisch geworden war, er jedoch nichts hatte ausrichten können. Mittlerweile war ihm klar, dass er es allein nie schaffen würde und dass seine Elena, seine Volpina , nicht mehr lange auf ihn warten würde.
»Wir müssen schnell agieren. Wir haben schon zu viel Zeit verloren – jetzt brauchen wir Ihre Hilfe.«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich nicht willens bin …«
Mit einer schnellen Bewegung drehte sich Zugel um und gab Giovanni eine schallende Ohrfeige.
»Sie befinden sich nicht in der Position, irgendwelche Bedingungen zu stellen. Im Gegenteil, lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, dass ihre lächerlichen Zweifel aus dem Weg räumen wird. Machen Sie diese Schublade auf, Volpe.«
»Was ist da drin?«
»Na los, trauen Sie sich – öffnen Sie die Schublade, es ist keine Bombe.«
Giovanni holte ein Set Damenunterwäsche heraus: Büstenhalter, Höschen und Strumpfgürtel.
»Was soll das bedeuten«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Oh, machen Sie sich kein Sorgen, ich will nicht, dass Sie die Fummel für mich anziehen – Sie sind nicht mein Typ. Sagen Sie mir lieber, ob Ihnen diese Gegenstände bekannt vorkommen.«
Giovanni betrachtete die Wäsche aufmerksam – bei der Berührung der weichen Seide lief ein Schauder durch seine Lenden. Dann erkannte er, was er da in Händen hielt, und das wollüstige Schauern mutierte zu einem Zittern. Unendliche Angst stieg in ihm hoch.
»Ja«, sagte Zugel mit einem schwachen Lächeln, »die Sachen gehören Elena – waren sie nicht sogar
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