999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
die einzelnen Blätter mit einer hauchdünnen Schicht aus Aloe-Vera-Essenz. Von den alten Ägyptern bis zu den Gelehrten der Hermetik war diese Essenz für ihre fixierenden und versiegelnden Eigenschaften bekannt: Sie würde die Buchseiten hart und stabil machen. Nun würde nur das Schwert des Feuers ihnen etwas anhaben können.
Dass er schneller zum Erfolg gekommen war als angenommen, hatte er seinem Vater noch nicht mitgeteilt – und würde das auch nicht tun: Cristoforo wollte die verbleibenden Tage bis zum Ablauf seiner Frist nutzen, um die Gedankenwelt Giovanni Picos zu durchdringen und um besser verstehen zu können, warum der Papst von dem Manuskript so magisch angezogen schien. Er musste das Manuskript gleich hier und jetzt lesen – es abzuschreiben würde zu viel Zeit kosten und wäre außerdem zu gefährlich: Wenn dieser Text in seinem Besitz gefunden würde, wusste Cristoforo, würde er mit den Käfigen der Engelsburg Bekanntschaft schließen und mit den Krähen, die ihm im Kerker die Augen aushacken würden.
Einen ganzen Tag und eine ganze Nacht las Cristoforo langsam und bedächtig Zeile für Zeile. Und mit jeder Seite fühlte er in sich die immense Macht des Wissens aufsteigen, bis er an einem Punkt angelangt war, an dem er glaubte, den Schlüssel für etwas zu besitzen, von dem er nie zu träumen gewagt hätte. Nichts und niemand würde ihm im Wege stehen, keine Könige und keine Päpste würden ihn aufhalten können: Der Wert seines Wissens überstieg sogar den sagenhaften Goldschatz Spaniens. Mirandola hatte gut daran getan, das Manuskript »die geheimen und verborgenen Thesen« zu nennen und sie zu beschützen wie seinen Augapfel. Sobald Cristoforo nach Genua zurückgekehrt wäre, würde er die fundamentalen Aussagen der Thesen niederschreiben. Seine Augen leuchteten. Mit diesem Plan würde er in die Geschichte eingehen. Aber bis zu diesem Moment war sein Leben in höchster Gefahr, denn sein Vater würde ihn gewiss töten lassen, wenn er von seinem Verrat erführe. Und an seiner Stelle hätte Cristoforo genauso gehandelt.
Rom
Montag, 1. Januar 1487
Cristoforo bittet um eine Audienz, Eure Heiligkeit.«
Der Kardinalvikar war im Halbdunkel auf leisen Sohlen in das Studierzimmer des Papstes getreten und hatte sich Seiner Heiligkeit bis auf wenige Schritte genähert.
Innozenz lag auf einem Diwan zwischen blauen Kissen, die mit seinem Familienwappen bestickt waren, und machte ein Nickerchen. Nach dem hastig heruntergeschlungenen Mahl und den fleischlichen Vergnügungen danach hatte er sich schläfrig und müde gefühlt. Die Anstrengungen hatten sich jedoch gelohnt – er hatte die Nichte der abgelegten Geliebten von Kardinal Borgia gehabt. Der Kardinal selbst hatte sie ihm besorgt; und Borgia hatte nicht zu viel versprochen: Das Mädchen hatte große Ähnlichkeit mit seiner Tante, der wundervollen Vannozza, und gab sich, auch nachdem sie ihn befriedigt hatte, mit einer unerschütterlich zur Schau gestellten Distanz, die Innozenz anstachelte: Er hatte sich bei ihr wie ein Löwe gefühlt. Das neue Jahr hätte nicht besser beginnen können.
Träge öffnete er ein Auge und brauchte etwas Zeit, um zu realisieren, was Sansoni da gerade gesagt hatte. Dann war er jedoch auf einen Schlag hellwach.
»Worauf wartest du noch? Lass ihn vor, du Maccaccu !«, schrie der Papst seinen Kardinalvikar an und warf das heilige Mützchen nach ihm.
Schnell setzte er sich auf und öffnete, noch bevor sein Sohn das Zimmer betrat, die Arme.
»Komm zu mir, mein Sohn.«
»Vater, segnet mich …«, antwortete Cristoforo unterwürfig.
»Du hast all meine Segnungen, mein Sohn. Aber sag mir, welche Neuigkeiten bringst du mir?«
»Diese, mein Vater.« Cristoforo öffnete eine lederne Dokumentenmappe und holte das Manuskript von Graf Mirandola hervor. Der Papst warf einen gierigen Blick darauf, hielt aber sogleich ungehalten und enttäuscht inne.
»Es ist ja immer noch verschlossen!«
»Nein, Vater«, versicherte ihm Cristoforo, »die Seiten können nun gelesen werden.«
Innozenz’ Miene hellte sich schlagartig auf.
»Aus Respekt vor Euch habe ich noch nicht alles geöffnet«, fuhr er fort, »denn wie es unser Herr im Vaterunser lehrt: ›ne nos inducas in tentationem‹, ich wollte nicht der Versuchung erliegen, es zu lesen. Nach meiner Behandlung reicht nun aber ein dünnes, richtig geschliffenes Stilett, um die Seiten zu öffnen. Ich möchte Euch nicht mit der Beschreibung meiner Schwierigkeiten, die ich
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