999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Sixtus IV. waren sie damals, vor drei Jahren, zu dritt gewesen – und der Neffe von Sixtus arbeitete bereits wieder daran, den Thron zurück in die Familie zu holen.
Und dann war da auch noch die »Angelegenheit Mirandola«. Wenn er nicht mit eigenen Augen die heilige Siegelrolle gesehen hätte, hätte er den geheimen Thesen von Pico nicht so viel Gewicht beigemessen. Die allerdings würden reichen, um Mirandola zum Tode zu verurteilen oder ihn wenigstens ins Exil in ein weit entferntes Land zu schicken.
Wenn der Inhalt der geheimen Thesen in der momentanen Situation der Kirche publik würde, wäre das der Sprengstoff, der das heilige Schiff zum Kentern bringen könnte – wurde die Macht Roms doch von allen Seiten bedroht: vom Orient, von Deutschland, von England und dem Osmanischen Reich. Ohne die göttliche Autorität wäre der Papst nichts als ein Hofnarr mit Tiara, der Monarch eines kleinen Königreichs ohne Armee und seines Namens nicht würdig. Auch die treuesten Monarchen würden die religiöse Instabilität, welche die Veröffentlichung der Thesen zweifelsohne nach sich ziehen würde, für ihre Zwecke auszunutzen versuchen – selbst die Aragonier aus Neapel würden ihre Rechtsansprüche auf einen reichen, aber wehrlosen Staat anmelden, dessen war er sich sicher.
Was wäre, wenn Mirandola etwas über die Existenz der Siegelrolle erführe? Jeder andere würde wohl versuchen, den ein oder anderen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen – oder einfach aufgeben. Aber Mirandola war nicht so einer; er war ein Gelehrter und damit ein gefährlicher Fanatiker, den man so schnell wie möglich ausschalten musste.
Borgia hatte bereits mit der Verteidigung begonnen und hatte Innozenz an das lateinische Sprichwort si vis pacem para bellum erinnert: Wenn du Frieden willst, bereite dich zum Krieg. Wenn Gott (oder wer auch immer von dort oben die menschlichen Geschicke leitete) nicht wollte, dass die Konklusionen bekannt würden, musste alles, was mit den Thesen im Zusammenhang stand, verbrannt und überall und mit allen Mitteln behauptet werden, dass das Weib ein niedrigeres Wesen als der Mann und sein Wesen grundsätzlich dämonisch sei. Je stärker sie die Betrachtungen Mirandolas angriffen und stattdessen ihre eigenen Behauptungen unter den Völkern verbreiteten, desto absurder und blasphemischer würden Mirandolas Thesen der Welt erscheinen, sollten sie durch einen unglücklichen Zufall doch unter das Volk geraten. Borgia war sich sicher: Dies war der einzige Weg, und nur so würde das Siegel in Sicherheit bleiben.
Das Blau des Himmels wurde zu Abendrot, und ein erster Stern ging über der Petersbasilika auf. Er hatte sie schon so oft angeschaut, aber nie wirklich gesehen. Sollte Gott oder der, der die Sterne am Firmament verteilt hatte, wahrhaftig existieren und ihm ein Zeichen geben? Ganz gewiss war dem schwachen Geiste Innozenz’ von einem höheren Wesen etwas eingehaucht worden, das ihn getrieben hatte, Rodrigo dieses Geschenk zu machen. Er an seiner Stelle hätte wahrscheinlich genauso gehandelt, aber beileibe nicht Innozenz auserwählt. Gut, dass es die Borgia gab. Er musste um jeden Preis Papst werden. Jeder andere, der an seiner Stelle Papst würde, müsste unweigerlich von dem Siegel erfahren. Was sollte er aber dann tun? Ihm alles erzählen? Warum? Um sein Leben noch mehr zu gefährden? Oder nichts verraten, aber aus welchem Grund? Welche Macht würde ihm das geben? Keine – außer er würde sich mit Mirandola zusammentun und sich an die Spitze einer Revolte stellen. Doch um welchen Preis? Was würde ihm dies einbringen? Ein Königreich? Einen Dank der Nachwelt?
Nein. Er war aus einem anderen Holz geschnitzt. Wenigstens könnte Innozenz ihm den Gefallen tun und möglichst bald schwer erkranken. Die französische Krankheit half ihm nicht weiter – sie konnte sich über Jahre hinziehen. Außerdem wären die Auswirkungen auf sein Gehirn bedrohlich, und er konnte nicht sicher sein, dass Innozenz das Geheimnis des Siegels nicht im Delirium jemandem verraten oder seine Nachfolge anderweitig überdenken könnte. Vielleicht sollte er ihm den Übergang ins Jenseits mit einer besonders ansteckenden Hure erleichtern, überlegte Borgia und lächelte düster.
Er hielt noch immer den leeren Weinkelch in der Hand und blickte gedankenverloren auf den Abendhimmel. Ein letzter roter Sonnenstrahl blendete ihn, so dass er sich umdrehte. Und dann sah er sie.
»Giulia!«
Sie war leise in sein Zimmer gekommen und stand
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