Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
Limoges unterwegs ist. Bereits seit 1989 pilgert er regelmäßig auf verschiedenen Routen des Jakobsweges und ist natürlich auch schon den Camino Frances nach Santiago gegangen. Ich schätze Gerard auf Mitte 60. Wie alle anderen Pilger, die ich bisher getroffen habe, war er damit deutlich älter als ich. Die meisten scheinen den Jakobsweg erst zu gehen, wenn sie in Rente sind. Dabei sehe ich nichts Verkehrtes darin, ihn schon in jüngeren Jahren zu gehen, wenn man noch die eine oder andere Richtungsentscheidung zu treffen hat. Ich selbst habe zwar noch keinerlei Entscheidung getroffen, aber der Weg hilft, gibt Orientierung, ohne Frage. Keine störenden äußeren Einflüsse, keine gutgemeinten Ratschläge, keine Zweifler und keine Alltagsfesseln lenken ab. Der Blick ins eigene Innere ist sozusagen unverbaut, und solange sich keine Abgründe auftun, macht es sogar richtig Spaß. Sollten die Abgründe noch kommen, werde ich mich halt mit ihnen auseinandersetzen. Egal wie ich es derzeit drehe, ich kann dem Pilgern nur Gutes abgewinnen. Aber ein paar Schritte sind‘s ja noch, also sachte… !
Wegen eines drohenden Gewitters brach ich meine Pause vorzeitig ab und ließ Gerard nach ein paar gemeinsamen Metern hinter mir. Das Gewitter wurde keins, in Saint-Pierre-le-Moûtier hatten sich alle dunklen Wolken bereits wieder verzogen. Ohne Probleme bekam ich ein schlichtes Zimmer im einzig offenen Hotel des Ortes, der sehr verschlafen daherkommt. Allein die Kirche in romanischer Bauweise fällt auf. An der Außenfassade wacht eine gut erhaltene Jakobusstatur über die vorbeiziehenden Pilger. Ein Blick hinein blieb mir verwehrt – leider geschlossen. Dafür hatte die Take-Away-Pizzeria geöffnet. Gut so, denn es ist wieder Sonntag in Frankreich... .
Zurück im Hotel wurde ich von einer größeren Gruppe französischer Fahrradtouristen angesprochen und zu einem Glas Wein eingeladen. Sie radeln eine Woche lang täglich annähernd 100 km in entgegen gesetzter Richtung zum Camino. Sogar ein Begleitfahrzeug haben sie dabei, fast wie die Profis. Es entwickelte sich ein lustiges Sprachwirrwarr aus Deutsch, Englisch und Französisch. Die Truppe war locker drauf, wollte so ziemlich alles über meinen Jakobsweg wissen. Ihre Bewunderung, ob echt oder gespielt, empfand ich allerdings als etwas übertrieben. Was mache ich denn schon? Ich gehe doch nur!
So, 23 Uhr, Feierabend! Zeit zum Schlafen! Obwohl auch Gerard hier eingecheckt hat (wo auch sonst?), habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Es war ein kontrastreicher Tag. Nach der Stille kam der Lärm... . Rainer hat mir mal gesagt, der Camino ist der Weg der Liebe. Seit heute weiß ich, was er meint. Und jeder, der sich ihm öffnet, wird’s auch erfahren, ganz sicher! Ultreya!
Eine der zahlreichen alten Kirchen in Frankreich
Tag 33, Saint-Pierre-le-Moûtier - Valigny 32,5 km
Es war bereits 9 Uhr durch, als ich nach mäßigem Frühstück meine heutige Tagesetappe unter die Füße nahm. Von Gerard habe ich nichts gesehen, er war bereits weg. Aufgeräumt und nahezu gedankenfrei absolvierte ich die ersten Kilometer, begegnete auf ruhigen Feldwegen und fast unbefahrenen schmalen Straßen keiner Menschenseele. Nur das vielstimmige Gezwitscher der Vögel war mein ständiger Begleiter. Auf den asphaltierten Abschnitten querten zahllose Käfer in teils beachtlicher Größe meinen Weg. Um ihr Leben nicht unter meinen Schuhsohlen zu beenden, musste ich mehr als einmal einen ausweichenden Schritt machen. Völlig ohne Vorankündigung vollzogen sich in meinen Gehirnwindungen plötzlich höchst schlüpfrige Geschichten. Wilde Männerphantasien, ganz und gar nicht jugendfrei, liefen vor meinem geistigen Auge ab. Jede Wiedergabe an dieser Stelle verbietet sich von selbst. Immer wieder interessant zu erleben, was in einem so arbeitet, während man unterwegs ist. Wie immer versuchte ich gar nicht erst, etwas zu beeinflussen. Erstens war es speziell in diesem Fall vielleicht unanständig, aber nicht unangenehm, und zweitens bringt es eh‘ nichts, seine Gedanken zu lenken. Sie machen doch, was sie wollen, kommen und gehen, gegensteuern zwecklos. Soll wahrscheinlich so sein, sie möchten, dass ich mich mit ihnen auseinander setze. Ob ich zwangsläufig in alle etwas hineinzuinterpretieren habe, steht auf einem anderen Blatt Papier. Heute hatte ich mehrere Varianten, die ich an dieser Stelle aber für mich
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