Abenteurer sucht Frau fürs Leben
einem heillosen Durcheinander an losen Seiten vor: Karteikarten mit Informationen über Patienten, Notizen, Rechnungen und andere Belege.
Irgendwie wirkten diese schlichten Zettel individueller als anonyme Computerdateien. Jedes einzelne Stück schien die Persönlichkeit des menschlichen Wesens widerzuspiegeln, das die Buchstaben und Ziffern eigenhändig zu Papier gebracht hatte. Beinahe wie beim Pinselstrich eines Künstlers war zu erkennen, wer eine bestimmte Information sorgfältig niedergeschrieben oder aber hastig hingekritzelt hatte.
In den letzten Tagen war Lili Hunderte von einzelnen Seiten durchgegangen. Dabei hatten sich einige Verfasser besonders deutlich herauskristallisiert – Kyle Munroe zum Beispiel.
Aus einer mit undatiert beschrifteten Schachtel nahm sie einen medizinischen Bericht, der von Kyle signiert war. Seine Handschrift – wie immer in schwarzer Tinte – war gradlinig und markant, die Ausdrucksweise klar und präzise. Der Mann mochte in der Londoner U-Bahn-Station recht ungepflegt und leger gewirkt haben, aber der Verfasser dieser Unterlagen war zielorientiert und arbeitete systematisch und professionell.
In den Unterlagen, die sie gerade bearbeitete, steckte geradezu anrührend viel Persönlichkeit von Kyle. Deshalb befürchtete sie, dass sein ganz privates Tagebuch, das er mitbringen wollte, sie über Gebühr belasten könnte.
Sie legte den Bericht zurück und stieß mit dem Fuß gegen einen verschlissenen alten Handkoffer, auf dessen Deckel die Buchstaben KBM eingeprägt waren. Sie schreckte davor zurück, auch nur einen Blick hineinzuwerfen, denn er wirkte so privat, dass ihn niemand anderer als der Besitzer selbst öffnen sollte.
Habe ich etwa nur Angst vor dem Unbekannten? Natürlich. Das ist ja nichts Neues.
Kyle Munroe blieb eine unbekannte Größe.
Lili glaubte nicht, den Namen bis vor einer Woche jemals gehört zu haben. Während des Uganda-Einsatzes ihrer Mutter hatte sie in London studiert und von ihrem Vater nichts darüber erfahren. Die letzten Monate in Ruths Leben blieben ein großes Rätsel. Genau wie Kyle.
Vielleicht hatte sich Lili deshalb die Zeit genommen, sein erstes Buch Medizinmann zu lesen und sein Weblog zu besuchen, um mehr über seine Arbeit in Nepal zu erfahren. In den kurzen wöchentlichen Einträgen in seinem Blog kamen viele Facetten seiner Persönlichkeit zum Vorschein – der Humor, die Hingabe, der Charme. Sie konnte gut verstehen, warum das Buch und die TV-Dokumentation so populär waren. Der Autor wirkte betörend und dennoch sich selbst vollkommen treu.
Der Gedanke daran, bald neben ihm an diesem Tisch zu sitzen, sandte ungewohnte Schauer der Erregung durch ihren Körper, und ihre Wangen wurden heiß. Schon seit Tagen spürte sie immer wieder dieses nervöse Flattern, wenn sie sich vorstellte, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Sie fühlte sich wie gehetzt. Doch so etwas gab es bei ihr nicht. Normalerweise nicht. Bisher nicht. Dieser Mann hatte einfach etwas Besonderes an sich. Sie wünschte sich sehnlichst, ihn wiederzusehen. Oder war es der Mann in dem Buch, dem sie begegnen wollte? Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden.
Eine Bewegung vor dem Fenster durchbrach ihre Gedanken. Sie blickte auf und sah einen blutjungen Irish Setter mit glänzend rotbraunem Fell über den Rasen springen – Belle , ein Weihnachtsgeschenk ihrer Patentante Emma. Belle war absolut entzückend und Lilis ständige Begleiterin, wobei eine übermütige Hündin und offizielle Schriftstücke nicht gut zusammenpassten. Deshalb war es ein Glück, dass sich das Tier im riesigen Garten und nicht im Haus verausgabte.
Schmunzelnd beobachtete Lili die aberwitzigen Turnübungen des verspielten Tieres, und dabei fasste sie neuen Mut.
Du hast gar keinen Grund, so nervös zu sein, sagte sie sich. Sie hatte die Unterlagen nach Datum sortiert – ganz wie von Mike gewünscht. Nun brauchte Kyle sie nur noch mit seinen eigenen Aufzeichnungen abzugleichen, um daraus den Rahmen für sein Buch zu schaffen. Je eher das erledigt war, desto früher konnte er aus Kingsmede verschwinden, und sie konnte wieder in ihr normales Leben zurückkehren. Sie musste nur ein paar Tage mit ihm zusammenarbeiten. Nichts weiter. Und dann bekam das Hospiz das dringend benötigte neue Ruhezentrum.
Morgen fange ich an, die Tagebücher meiner Mutter zu lesen. Oder übermorgen!?
Und die persönlichen Briefe? Nun, die standen auf einem ganz anderen Blatt.
Lili wandte sich vom Fenster ab.
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