Abgründe
euch?«, fragte er einen der Polizisten.
»Nein, den habe ich nicht gesehen«, antwortete der Polizist. »Ist er nicht schon nach Hause gegangen?«
»Wahrscheinlich. Er geht jedenfalls nicht ans Telefon.«
Arnar sah Sigurður Óli an. Es sah zunächst so aus, als wolle er etwas sagen, doch dann besann er sich und senkte den Blick. Kurze Zeit später gab er sich einen Ruck.
»Habt ihr Sverrir auch geholt?«, fragte er.
Sigurður Óli nickte.
»Knútur hat ausgepackt?«
»Wir reden morgen miteinander«, sagte Sigurður Óli. »Gute Nacht.«
Er sah, dass Kristófer nicht mehr auf dem Korridor war. Und er sah Finnur, der eben in sein Büro zurückkehrte. Sigurður Óli rief seinen Namen. Finnur überhörte das und schloss die Tür hinter sich. Sigurður Óli stieß sie wieder auf und marschierte ins Zimmer.
»Wo ist Kristófer?«, fragte er. »Habt ihr ihn schon wieder freigelassen?«
»Machst du dir etwa Sorgen seinetwegen?«, fragte Finnur.
»Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wieder auf freiem Fuß. Das geht mich nichts mehr an. Wieso fragst du mich danach?«
»Wo ist er hingegangen?«
»Wo ist er hingegangen? Glaubst du vielleicht, dass ich mich dafür interessiere, was diese Idioten machen, wenn sie hier rauskommen?«
Sigurður Óli verließ Finnurs Büro, rannte über die Gänge und zum Hintereingang nach draußen. Dort fuhr gerade ein Streifenwagen vor, aus dem Sverrir ausstieg. Sigurður Óli lief zum Einfahrtstor hinaus auf die Straße und rief Kristófers Namen. Er blickte kurz Richtung Snorrabraut und entschied sich dann für die andere Richtung. Er rannte zunächst zum Haus der Freimaurer, machte dort wieder kehrt, lief in Richtung Meer und bog zum Borgartún ein. Er rief einige Male nach Kristófer und verlangsamte seine Schritte. Bei einer kleinen Nebenstraße wollte er schon wieder umkehren, als er in einiger Entfernung einen Mann am Boden liegen sah und drei andere, die wegrannten.
Sigurður Óli beeilte sich, als er sah, wie die drei in ein Auto sprangen, das von einem vierten gefahren wurde. In Sekundenschnelle war das Auto um die nächste Ecke verschwunden. Der am Boden liegende Mann stöhnte vor Schmerzen, sein Gesicht war blutüberströmt. Es war Kristófer. Er lag mit offenem Mund auf dem Rücken, die Schneidezähne fehlten, die Augenpartie war von Schwellungen entstellt. Sigurður Óli brachte ihn in die Seitenlage und bestellte einen Krankenwagen.
»Was für Leute waren das?«
»Keine … Ahnung«, flüsterte Kristófer.
»Was ist passiert?«
»Sie … Sie haben … mir hinterm Dezernat aufgelauert.«
Wenig später war Sigurður Óli zurück im Hauptdezernat und stürmte zu Finnurs Büro. Finnur war im Begriff, es zu verlassen, als Sigurður Óli auftauchte, ihn ins Zimmer zurückschob und die Tür zuschlug.
»Mann, was soll das«, rief Finnur und machte Anstalten, auf Sigurður Óli loszugehen.
»Ich habe gerade einen Krankenwagen für Kristófer bestellt«, sagte Sigurður Óli.
»Kristófer? Was geht mich das an?«
»Wäre es nicht angebrachter zu fragen, was passiert ist?«
»Wovon redest du eigentlich?«
»Ich dachte, ich hätte dich gewarnt. Ich werde es weiterleiten, wenn du nicht damit aufhörst.«
»Ich versteh nicht, was du meinst. Mach, dass du rauskommst!«
»Ich spreche darüber, dass du irgendwelche Leute über die Kriminellen informierst, die hier das Haus verlassen! Willst du so Gerechtigkeit üben? Geht es darum?«
Finnur trat ein paar Schritte zurück.
»Ich weiß wirklich nicht, was du dir da zusammenphantasierst«, sagte er, doch er klang nicht mehr ganz so selbstsicher.
»Ich weiß, dass diese Gewalttäter viel zu leichte Strafen bekommen, dass sie oft direkt nach der Vernehmung einfach wieder auf die Straße hinausspazierenkönnen. Aber glaubst du wirklich, dass das eine Lösung ist?«
Finnur schwieg.
»Ich weiß, dass du das vor drei Jahren schon einmal gemacht hast, wegen dieses Mädchens in der Pósthússtræti. Und ich bin nicht der Einzige, der es weiß. Und jetzt hast du wieder damit angefangen. Es gibt hier Leute, die so etwas nicht gutheißen.«
»Die Menschen wollen Gerechtigkeit«, sagte Finnur.
»Du willst Gerechtigkeit«, sagte Sigurður Óli.
»Heute Abend wurde ein Junge bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert, das hat dein lieber Kristófer getan«, sagte Finnur. »Völlig grundlos, nur so aus Spaß. Wir wissen nicht, ob der Junge das heil überstehen wird, wenn er aufwacht. Wir wissen nur, dass dein lieber
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