Abgründe
Kriminalbeamten unglaubwürdig zu machen. Er war sich nicht sicher, ob es jemals zur Sprache kommen müsste, was genau er von Lína gewollt hatte. Es war immer noch völlig unklar, wie es in dieser Sache weitergehen würde. Da er nur zu einem ganz geringen Teil Einfluss darauf hatte, konnte er nur das Beste hoffen. Die weitere Bearbeitung des Falls lag in den Händen von Finnur, und Sigurður Óli machte sich deswegen keine sonderlichen Sorgen.
Þórarinn sah wieder seinen Rechtsanwalt an. Der nickte.
»Drogenschulden«, sagte er. »Ja, es stimmt, ich verkaufe manchmal Stoff, und sie schuldete mir Geld. Es gab eine Auseinandersetzung, ich musste mich wehren und hab ihr einen Schlag versetzt. Ich wollte ihr aber nichts antun. Es steckte keinerlei Absicht dahinter, ich hatte es überhaupt nicht auf so etwas angelegt. Aber ich geriet in Panik, als der Idiot da auftauchte«, sagte Þórarinn und deutete auf Sigurður Óli.
»Ist das die Verteidigungsstrategie?«, fragte Sigurður Óli.
»Es war ein Unfall, es war keine Absicht«, erklärte Þórarinn. »Sie ist auf mich losgegangen, und ich hab mich gewehrt. Basta.«
»Sie ist auf dich losgegangen?«
»Ja.«
»Du bist mit einem Baseballschläger in das Haus eingedrungen, hast dort alles kurz und klein geschlagen, und sie ging auf dich los?«
»Ja.«
»Das reicht im Augenblick«, sagte Finnur.
»Darf ich dann gehen?«, fragte Þórarinn grinsend. »Ich habe keine Zeit für diese Spielchen. Ich habe eine Familie zu ernähren. Als Lieferwagenfahrer hat man nicht das Gehalt eines Bankdirektors.«
»Ich glaube, es wird noch eine ganze Weile dauern, bis du wieder Aufträge übernimmst«, sagte Finnur.
»In welchem Auto bist du zu Lína gefahren?«, fragte Sigurður Óli.
Þórarinn überlegte. »Auto?«
»Ja.«
»Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Wenn du ihr nichts tun wolltest und das alles aus Versehen passiert ist, weshalb hast du dir dann ein Auto ausgeliehen, um zu ihr zu fahren?«
»Ein Auto ausgeliehen?«, fragte der Rechtsanwalt. »Was hat das mit der Sache zu tun?«
»Das lässt auf Vorsatz schließen, auf zielgerichteten Willen, so lautet das wohl in eurem Jargon. Es war ihm darum zu tun, dass seine Anwesenheit in der Nähe des Hauses nicht nachzuweisen war.«
»War es Kiddi?«, fragte Þórarinn und beugte sich vor. »Natürlich! Du hast mit Kristján gesprochen. Dasverdammte Arschloch! Verdammt noch mal, den werde ich …«
»Was für ein Kiddi?«, fragte Finnur und sah Sigurður Óli an.
»Bleib bei der Sache«, sagte Sigurður Óli schroff; er wusste, dass er zu viel gesagt hatte, und zu früh.
»Hat Kristján mich verpfiffen? Hat er dir von Höddi erzählt? Verdammte Schweinerei!«
»Was für ein Kristján?«, fragte Finnur.
»Keine Ahnung, wovon er redet«, sagte Sigurður Óli.
Fünfunddreißig
Er brauchte lange, um wach zu werden, und hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Also blieb er bewegungslos liegen, während er versuchte, sich zurechtzufinden. Dann erinnerte er sich dunkel an eine Begegnung auf dem Friedhof, an Kälte und nebliges Wetter, an schiefe Bäume und Grabsteine, die in alle Richtungen kippten. Und an Ruhe.
Er wusste nicht mehr, worüber genau er bei dem Treffen mit dem Polizisten gesprochen hatte. Er erinnerte sich aber daran, dass er gekommen war und dass sie eine Weile zusammengesessen hatten. Er hatte sich mit ihm unterhalten, und dann war etwas passiert – mehr wusste er nicht mehr. Er erinnerte sich nicht, was vorgefallen war, wie sie auseinandergegangen waren und wie viel er ihm gesagt hatte. Er hatte ihm alles sagen wollen. Als er den Polizisten anrief und ihn bat, zum Friedhof zu kommen, hatte er ihm die ganze Geschichte erzählen wollen – von der Grettisgata, von Rögnvaldur und seiner Mutter, von dem, was ihm als Kind widerfahren war und wie man ihn behandelt hatte. Er hatte vorgehabt, den Polizisten zur Grettisgata zu bringen und ihm den Abschaum zu zeigen und alles zu gestehen. Aber dann hatte er es doch nicht getan, was auch immer der Grund dafür war. War er weggelaufen? Erkam erst jetzt hier auf dem Fußboden in der Kellerwohnung auf der Grettisgata wieder zu sich.
Er richtete sich unter Mühen auf und tastete nach der Tüte. Die eine Flasche war leer, aber die andere noch knapp halb voll. Er nahm einen kräftigen Schluck, wobei ihm sofort einfiel, dass er so schnell wie möglich wieder zum Alkoholladen musste. Und plötzlich erinnerte er sich, dass er über die Friedhofsmauer
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